Leonardo Sciascia

Ein Sizilianer von festen Prinzipien


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– absolutistische Staat, die spanische Monarchie, stellte sich dem laizistischen Staat entgegen, der gegenüber den Forderungen der Moderne auf andere Weise offen war. Was in Sizilien ausgefochten wurde, war kein lokales Streitgeplänkel, sondern ein Aspekt und ein Moment des ideologischen und politisch-religiösen Kampfes, der seine Wurzeln sehr tief in der spanischen Geschichte versenkte.«

      8Wäre es nicht absolut irreführend, könnte man auch die Begriffe »Supermacht« und »global« mitdenken, aber in Zeiten der Verschwörungstheoretiker wird ja gefährlicherweise wenig gedacht.

      9Américo Castro, España en su Historia – Cristianos, moros en judíos, Madrid 1948.

      Tod des Inquisitors

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      Vorwort*

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      Um es gleich zu bekennen: Diese kurze essayartige Erzählung über ein Ereignis und eine Person der sizilianischen Geschichte, die fast vergessen sind, ist mir das Teuerste von allem, was ich geschrieben habe, und das Einzige, was ich immer wieder lese und worüber ich mir den Kopf zerbreche. Der Grund: Es ist tatsächlich ein nicht abgeschlossenes Buch, eines, das ich nie abschließen werde, das ich immer neu zu schreiben versucht bin, und das ich doch nicht neu schreibe, solange ich darauf warte, noch etwas zu entdecken: ein neues Dokument, eine neue Erkenntnis, die aus mir längst vertrauten Dokumenten aufscheint, irgendein Indiz, eine Eingebung in einem Zustand zwischen Traum und Wachen, wie es Simenons Maigret widerfährt, wenn eine Ermittlung ihn nicht mehr loslässt. Doch abgesehen von dieser Leidenschaft für das noch ungelüftete Geheimnis, das zu lüften mir noch nicht vergönnt ist, muss hier Folgendes vermerkt werden: Mein kleiner Text hat um sich herum so etwas wie ein Vakuum erzeugt, hinter dem Misstrauen, Verärgerung und Groll stehen.

      Als ich voriges Jahr in Spanien in den Antiquariaten nach Werken über Azaña und eben auch nach Werken über die Inquisition suchte, musste ich feststellen, dass die Buchhändler nicht mit der Wimper zuckten, wenn ich nach Büchern über den letzten Präsidenten der Republik fragte, jedoch erstarrten, wenn sie die Frage nach Büchern über die Inquisition hörten. In Barcelona ließ sich ein Buchhändler zu der vertraulichen Erklärung hinreißen, dass es heutzutage nicht mehr riskant sei, Bücher über die Republik oder Persönlichkeiten wie Azaña vorrätig zu haben und zu verkaufen (im Übrigen waren in den Schaufenstern sämtlicher Buchhandlungen Das Kapital und die Briefe von Gramsci ausgestellt), was aber die Inquisition angehe, da sei Vorsicht geboten. Und wie es so scheint, ist auch in Italien Vorsicht geboten, denn allerorts gibt es in Sachen Inquisition (nicht die als Institution, sondern Inquisition als Prinzip, als System) Personen und Einrichtungen, die einen »Schwanz aus Stroh« oder »nasse Kohlen«, also Dreck am Stecken, etwas zu verbergen haben: zweifelsohne treffende Redensarten, denkt man an die schönen Feuer von einst. Und da kommt einem die Stelle in den Brautleuten in den Sinn, wo der Mesner auf den Hilferuf Don Abbondios hin Sturm läutet, und jedem der beiden Spitzbuben, die in Lucias Haus im Hinterhalt liegen, »ist, als höre er in diesen Glockenschlägen seinen Namen samt Zu- und Beinamen rufen«. Genauso geschieht es, sobald man das Thema Inquisition anschlägt: Viele Ehrenmänner hören sich sogleich bei Vor- und Nachnamen nebst ihrer Parteibuchnummer aufgerufen. Und ich spreche, das versteht sich, nicht nur von Ehrenmännern katholischen Glaubens. Die Menschheit hat weitere Formen der Inquisition erduldet und erduldet sie noch immer, weswegen, wie der Pole Stanisław Jerzy Lec sagt, die Klugheit danach verlange, nicht über den Strang zu sprechen, weder im Haus des Erhängten noch im Haus des Henkers.

      Die Wirkung also, die Tod des Inquisitors auf diese Ehrenmänner gehabt hat, die Überheblichkeit, mit der sie darüber gesprochen oder geschwiegen haben, ist der andere Grund, weshalb mir dieses Buch so am Herzen liegt.

      Bleibt noch zu sagen, dass ich unter Befolgung der Hinweise, die mir meine Leser großzügigerweise haben zukommen lassen, einige Korrekturen am Text vorgenommen sowie eine Anmerkung über eine kürzlich gemachte Entdeckung im Palazzo dello Steri in Palermo, dem früheren Sitz der Inquisition, hinzugefügt habe.

       1967 – Leonardo Sciascia

       Desgleichen berichten wir Euch von den Angelegenheiten der Inquisition und benennen Euch die Schäden, entstanden infolge des Durcheinanders, das der Inquisitor und seine Beamten in diesem Königreich verursachen, zuvörderst hinsichtlich der Art und Weise ihres Vorgehens, und dass wir keinerlei Mittel haben, um uns dagegen zur Wehr zu setzen, also dem größten Chaos der Welt in dieser Stadt ausgeliefert sind, und dass der Inquisitor zusammen mit all den Seinigen nur darauf aus ist, Geld herauszuschinden, nichts sonst. Desgleichen sagen wir Euch, dass wir nie im Leben mit dieser Inquisition einverstanden sein werden …

      Der Senat von Palermo

      an Antonello Lo Campo, Botschafter bei Karl V.

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      Pacienza Pane, e tempo

      Diese Worte (Geduld / Brot und Zeit), eingeritzt in die Wand einer Zelle des Palazzo Chiaramonte, Sitz des Heiligen Offiziums von 1605 bis 1782, gelingt es Giuseppe Pitré im Jahr 1906 zu entziffern, neben anderen Worten der Verzweiflung, der Angst, der Warnung, der Bitte – zwischen Bildern von Heiligen, von Allegorien, von erinnerten oder erträumten Dingen.

      Hab stets den Tod im Sinn.

      Auf Erden gibt es doch kein Mittel dagegen.

       Sei dir bewusst, hier ziehen sie mit dem Seil hoch und …

       Behalt’s im Kopf, hier geben sie das Seil …

       Seid gewarnt, hier geben sie als Erstes das Seil …

      Denk daran, du bist eben erst angekommen.

       Bist du unschuldig, so lade keine Schuld auf dich;

       hast du gefehlt, versuche nicht, dich zu entschuldigen;

      offenbare die Wahrheit und vertraue auf den Herrn.

      Stell dich dumm.

       Tod, wo ist dein Sieg?

      Drei Zellen voller Inschriften und Zeichnungen, in zwei und mehr Schichten übereinander. Pitré brauchte sechs Monate, um sie zu entziffern, sie zu deuten, sie zuzuordnen; und sein Werk Del Sant’Uffizio a Palermo e di un carcere di esso (Über das Heilige Offizium in Palermo und einen seiner Kerker) war noch nicht endgültig fertiggestellt, als er zehn Jahre später starb (und die posthume, von Giovanni Gentile besorgte Veröffentlichung ist auch noch höchst mangelhaft gedruckt1). Bereits im fortgeschrittenen Alter legte er eine beeindruckende Arbeit über ein beeindruckendes Thema vor; über ein finsteres, namenloses, ungestaltes Drama, und mit Geduld und Hingabe gelang es ihm, einige Gesichter, einige Namen zu Tage zu fördern: den Gelehrten Francesco Baronio (oder Barone), den Dichter Simone Rao. Dem ersten schrieb er bestimmte Heiligenbilder zu, nebst knappen und klaren hagiographischen Erklärungen und Gebeten in lateinischen Distichen; dem zweiten einige im Dialekt verfasste Achtzeiler voller Trostlosigkeit und Verzweiflung. Wie dieser:

       Cui trasi in chista orrenda sepultura

       vidi rignari la [gran] crudeltati

       unni sta scrittu alli segreti mura:

       nisciti di spiranza vui chi ntrati;

      chà non si sapi s’agghiorna o si scura,