Leonardo Sciascia

Ein Sizilianer von festen Prinzipien


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pirché non si sa mai si vena l’hura

      di la desiderata libertati.

       (Wer auch immer in dieses schreckliche Grab geworfen

       sieht (große) Grausamkeit an der Macht

       wo an den Mauern im Verborgenen steht geschrieben:

       Lasst fahren alle Hoffnung ihr, die ihr eintretet;

      hier weiß niemand, ob es tagt oder dunkelt,

      Weinen und Wehklagen nichts sonst sind zu hören,

       denn niemand weiß, ob je der ersehnten

       Freiheit Stunde kommen wird.)

      Wie es aussieht, wussten weder Simone Rao noch die anderen Gefangenen, die an den Wänden der Verliese Zeugnis ihrer Gefühle und Gedanken hinterlassen haben (Pitré nennt diese Inschriften und Zeichnungen Kerker-Palimpseste), die Annehmlichkeiten, die das Heilige Offizium ihnen bot, richtig zu schätzen; hält man sich an die folgende Darstellung, so waren sie gar Verrückte, nicht anders als jene, die heute ihre Namen und Einfälle an den Wänden berühmter Monumente oder öffentlicher Toiletten hinterlassen.

      Die Gefängnisse der Inquisition waren nie die finsteren Verliese, wie man sie sich vorstellt; sie bestanden aus geräumigen, hellen, sauberen und möblierten Zellen. In vielen Fällen brachten die Gefangenen ihr eigenes Mobiliar dorthin mit, und denen, die darum ersuchten, war stets der Gebrauch von Büchern, von Papier und Schreibutensilien gestattet.

      Worte, die nicht etwa vom letzten Inquisitor oder einem seiner familiari stammen, sondern von einem unserer Zeitgenossen, dem spanischen Schriftsteller Eugeni D’Ors i Rovira, zu finden in einem Buch mit dem Titel Epos de los destinos2: heldenhafte Einzelschicksale, die zusammenfließen im spanischen Heldenschicksal und Spaniens Schicksal formen, es in seinem Wesen begründen. Eines dieser Schicksale ist das des Kardinals [Francisco] Jiménez de Cisneros: Regent von Kastilien beim Tod Ferdinands des Katholischen, Großinquisitor, Gründer der Universität von Alcalá de Henares; eine Hand, wie sich D’Ors in seiner Sprache ausdrückt, die Spanien die Luft zum Atmen genommen hat, ihm aber zur gleichen Zeit eine Stütze war. Wie man aber gleichzeitig einem lebendigen Wesen die Luft zum Atmen nehmen und ihm eine Stütze sein kann, ist ein Geheimnis der Prosa (des Denkens können wir nicht sagen) von D’Ors. Eine Hand, die ein Leben erstickt, hält nichts anderes als einen Leichnam, es sei denn, es fehlt ihr an Kraft, das Werk zu vollbringen. Der Begriff des Erstickens scheint uns daher bei Américo Castro besser erklärt:

       Die Inquisition war eine lang andauernde

       Heimsuchung, sie machte die intellektuelle Wissbegier

      der Spanier noch dürftiger, doch es gelang ihr nicht,

       auch nur einen großen Gedanken zu ersticken, der dem

      lebendigen Herzen dieses Volkes entstammte3.

      Es gelang ihr nicht: So ist es gut. Aber kehren wir zurück zu Pitré, der vom Heiligen Offizium und seinen Kerkern durch eigene Anschauung eine ganz andere Vorstellung hatte als D’Ors.

      Die Inschrift Geduld / Brot und Zeit kommentiert er folgendermaßen:

      Drei Sachen, die leider unabdingbar sind, um nicht zu verzweifeln, um leben und abwarten zu können; in ihnen braucht man keine andere Bedeutung als die offenherziger Schicksalsergebenheit zu suchen, denn der Gedanke an Vergeltung oder Rache am Tribunal wäre Wahnvorstellung eines kranken Geistes gewesen. Dergleichen Gedanken wird es zwar zu jener Zeit, nicht aber an diesem Ort gegeben haben.

      Und doch hat Pitré in der Einleitung zu seiner Studie an einen Mann erinnert, der fähig war, just an diesem Ort Gedanken an Vergeltung und Rache zu hegen: Fra Diego La Matina aus Racalmuto. Nicht nur war er zu solchen Gedanken fähig, sondern setzte sie auch um, und das zum persönlichen Schaden des Inquisitors, des Durchlauchtigsten Herrn Don Juan López de Cisneros.

       Mittwoch, den 4. [April 1657]. Begraben ist in der Chiesa Santa Maria degli Angeli der Barfüßerpatres, genannt la Gangia, der Durchlauchtigste Herr Don Juan López Cisneros, Inquisitor in diesem Königreich Sizilien; dem, als er sich in die Geheimverliese des höchsteigenen Palastes der Inquisitoren begab, um nach einigen der Eingekerkerten zu sehen, ein Mönch mit Namen Fra Diego La Matina aus der Gegend von Racalmuto entgegenkam, vom Reformierten Orden des heiligen Augustinus, genannt die Patres der Madonna vom Felsen; und mit wahrhaft teuflischem Ansinnen zerbrach dieser die Handschellen, die er um die Handgelenke trug, und versetzte ihm mit ebenjenen Eisen viele Schläge, insbesondere zwei tödliche, einer gegen die Stirn und den anderen, heftigeren, auf den Schädel, an welchen er [später] denn auch verstarb. An diesem Tod nahm die ganze Stadt mit Tränen und Trauer Anteil, weil der Fall so ungewöhnlich war, hatte doch dieser Herr den Tod gefunden durch die Hand eines so barbarischen und grausamen Menschen. Da lief viel Volk zusammen, ihm die Hände und die Füße zu küssen, denn er galt nun bei allen als Märtyrer, gestorben für den christlichen Glauben, als er hinging, diesem ruchlosen Menschen, der wegen Häresie dort war, einen Besuch abzustatten, und zwar zu keinem anderen Zweck, als ihn über seine Verfehlungen zu belehren und ihn der wahren Buße für sein Seelenheil zuzuführen, wie auch dem Heil seines Leibs durch Verpflegung oder andere Dinge, die er brauchte. Doch jener, unbelehrbar in seiner Verdammnis, getrieben von den Furien der Hölle, erhob die Hände gegen den, der als Verteidiger gegen die Feinde Gottes und als deren Vernichter galt, und zwar dergestalt, dass er ihn auf der Stelle getötet hätte, wären nicht zufällig andere Personen hinzugekommen. Trotz alledem war der fromme Herr mit seinem wahrlich unübertrefflichen Herzen nicht nur unwillig, sich für dieses schmähliche Unrecht zu rächen: Er ließ während der ganzen Zeit seiner Bettlägrigkeit stets bewundernswürdige Anzeichen nicht nur von Vergebung, sondern auch von außerordentlicher Liebe für den Gottlosen erkennen: So bat er alle, ihn nicht zu misshandeln, ja ihm Gutes zu tun, um es ihm eine Pflicht sein zu lassen, seine Missetaten zu bereuen. Das trug dem Inquisitor ein so herausragendes Lob ein, dass man gemeinhin der Ansicht war, er sei heiter und festlich gestimmt als wahrer Märtyrer gestorben, als ihm von jener Hand der Tod zuteil ward, was ihm, wie wir zweifelsohne glauben, im Himmel ein ewiges Leben bescherte, wohin er aufgestiegen ist mit dem schönen Lorbeerkranz des Märtyrers, purpurrot vom eigenen Blute …

      Diese Notiz ist dem Tagebuch des Doktor Vincenzo Auria4 entnommen: eines Mannes, der so eng mit dem Heiligen Offizium verstrickt war und bei den Inquisitoren ein so hohes Ansehen genoss, dass es ihm gelang, eine Häresie aus der Behauptung zu machen, der selige Agostino Novello sei in Termini geboren, eine Behauptung, die seiner Entscheidung zuwiderlief, die Geburtsrechte des Seligen der Stadt Palermo5 zu schenken (so seine Worte). Als er aber diese Notiz niederschrieb, war, um bei der Wahrheit zu bleiben, die Streitfrage um den Seligen noch gar nicht aufgekommen: Gleichwohl wird es sehr gewichtige Gründe für seine Dankbarkeit gegenüber dem Heiligen Offizium gegeben haben, dessen familiare er war, wie so viele andere auch (im Jahr 1577 schätzte der Vizekönig Marco Antonio Colonna die Zahl der familiari in Sizilien auf vierundzwanzigtausend: alle Reichen, Adligen und die reichen Verbrecher6).

      Doktor Auria ist also bemüht, uns über die zweifelsfreie Heiligkeit von Monsignore de Cisneros hinaus einen Ort vor Augen zu führen, der dem später von Eugeni D’Ors beschriebenen nicht unähnlich ist: ein Kerker, in dem die Gefangenen mit einer gewissen Freiheit umherwandeln, sich ungehindert dem Inquisitor nähern, der kommt, um sich zu erkundigen, wie es denn um ihre Verpflegung bestellt sei und ob sie Klagen oder Wünsche vorzubringen hätten. Das Detail der Handschellen aber macht die idyllische Vision zunichte. Vielleicht hatte man vergessen, sie ihm abzunehmen, vielleicht dachte der Inquisitor just in dem Moment daran, es zu tun: Fest steht, Fra Diego hatte diese Eisenklötze an den Händen. Zum Unglück von Monsignore de Cisneros.

      Nun ist es so, dass die Diener, also jene mit einer Dienernatur, stets niederträchtiger und dümmer sind als ihre Herren. Und so ist der Bericht von Pater Girolamo Matranga7, Theatiner,