Peter Zimmermann

Halt mir nur still


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      Wie ist es dort gewesen?

      Die Blumen hatten Farben, die ich noch nie gesehen habe.

      Was für Farben?

      Eben! Maria zieht die Nase kraus. Solche, die es nicht gibt. Grot und belb und glau! Sie kichert.

      Da wäre ich gern dabei gewesen, sagt Georg. Das nächste Mal weckst du mich und nimmst mich mit. In Ordnung?

      Maria nickt. Georg zieht die Decke hoch zu ihrem Kinn und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn. Die Holztür knarrt, als er sie zuzieht.

      Im Bad wäscht er sich das Gesicht. Er geht ins Schlafzimmer, hängt Hose und Hemd über den Stuhl und legt sich ins Bett.

      Schläft sie?, fragt Ruth.

      Ja.

      Hast du ihr Schokolade gebracht?

      Ja.

      Es ist nicht gut für die Zähne.

      Ich weiß. Er dreht sich zu Ruth, küsst ihren Hals, lässt die Hand langsam über ihre Brüste gleiten.

      Heute habe ich den Lussi gesehen, sagt sie, schiebt seine Hand zur Seite und sitzt auf.

      Was hat er gesagt?

      Du sollst dich in Acht nehmen. Er weiß, was du vorhast. Es ist besser, wenn du daheimbleibst.

      Georg reibt sich das Kinn. Er sagt: Morgen tanzt Lussi auf der Chilbi. Jagt dem Zopfwild nach und säuft sich unter eine Festbank.

      Dieses Mal nicht. Ich spüre es. Bitte geh nicht.

      Ich muss. Georg löscht das Licht. Ich kann nicht anders.

      Um halb sechs in der Früh poltert es gegen die Haustür. Ruth geht nach unten. Ruedi steht in der Stube. Den Hut in den Händen starrt er auf Ruths Nachthemd, nickt ihr verlegen zu, als sie ihm in die Augen sieht. Bleib hier, sagt sie zu Georg, der eine Taschenlampe im Rucksack verstaut. Er blickt auf, nimmt sie in den Arm, küsst sie auf den Mund, aber sagen tut er nichts. Er schüttet den Rest Kaffee in die Spüle und schnürt sich die Schuhe. Ruth holt die Benediktus-Medaille aus der Schublade.

      Nimm sie dieses Mal mit, sagt sie und legt die Hand auf seinen Arm. Mir zuliebe.

      Georg steckt die Medaille ein, dann ziehen die beiden Männer los.

      Sie setzt sich an den Tisch. Fahles Morgenlicht dringt durch die Fenster. Auf dem Foto, das neben den Trophäen hängt, ist der junge Georg zu sehen. Umringt von bärtigen Männern hält er einen Rehbock an den Läufen und lacht in die Kamera. Sein Vater gab ihm Gamsblut zu trinken, da war er noch ein Kind. Danach hatte sie ihn, die Leidenschaft. Es liegt in seiner Familie: Der Drang, die Sucht. Georgs Vater erwischten sie auf frischer Tat. Seine Flucht endete unter einer Felswand, auf der anderen Seite des Berges, die gewilderte Gams lag zwei Meter weiter im Geröll. Einem Onkel schoss der Kumpan in die Brust, als sie die Waffen reinigten. Die Tiere treffen sie, den Rest haben sie nie gelernt. Dem Vater wurde der Jagdschein verweigert, Georg hat keinen beantragt. Ich bin ein Sohn der Berge, sagt er. Ich bin ein freier Mann.

      Nebelschwaden ziehen die Bergflanken hoch. Georg greift nach dem Feldstecher und blickt zum Hang hinüber, Ruedi nestelt am Riemen seines Rucksacks, flucht leise vor sich hin. Hör auf, sagt Georg. Dann sieht er sie. Ihm wird heiß, die Hände beginnen zu zittern. Er reicht Ruedi das Fernglas. Zwischen Wald und Felsband, sagt er.

      Ja, sagt Ruedi nach einer Weile. Fast zwanzig Stück.

      Sie setzen sich neben einen Felsblock, halbieren den Laib Brot, den Georg eingepackt hat, schneiden dicke Scheiben vom Käse, brechen zwei Reihen aus einer Tafel dunkler Schokolade. Sie essen hastig und ohne zu reden. Danach klopfen sie Schnupftabak auf die Handrücken, jeder aus seiner Dose. Das Bockfieber hat Georg ergriffen, viel zu heftig schnupft er das Pulver. Mit Tränen in den Augen spuckt er einen dunkelbraunen Batzen aus.

      Lass uns gehen, sagt Ruedi. Der Wind ist gut.

      Die Wege haben sie längst verlassen. Sie überqueren einen Bach, Georg gerät mit dem Fuß ins Wasser. Für einen Moment halten sie inne. Kühle Luft streicht Georg über den feuchten Nacken. Bald sind sie den Gämsen nahe genug. Der Nebel hat sich aufgelöst, der Himmel ist blau wie Borretsch. Auf einmal hebt Ruedi die Hand, sieht sich um, blickt hinunter ins Tal.

      Da ist nichts, sagt Georg. Weiter jetzt!

      Sie gelangen zu einem schmalen Gürtel aus Kiefern und Fichten. Das Gelände ist steil und doch gehen sie schnell. Georg schnauft, sein Tritt ist schwer. Schließlich tut sich eine Lücke zwischen den Bäumen auf. Dort setzen sie sich ins Gras, legen die Büchsen auf die Rucksäcke und warten. Es ist halb zehn.

      Ruedi hat Wein mitgebracht. Georgs Kopf wird warm, nach jedem Schluck ist er durstiger als zuvor. Durch das Fernglas beobachtet er einen Tannenhäher, der Vorräte für den Winter versteckt. Als Ruedi hustet, fliegt er weg. Eine Stunde vergeht. Noch immer sind sie im Gegenwind. Alles ist still.

      Vorsichtig zieht Ruth an den Ketten der Pendeluhr, die Gewichte gleiten nach oben. Sie schließt das Gehäuse, setzt sich an den Tisch und schreibt einen Brief an ihre Schwester. Ruths Hand zittert, die Buchstaben geraten durcheinander. Sie schraubt die Kappe auf den Füllhalter und lauscht dem Ticken der Uhr. Dann knüllt sie das Papier zusammen und setzt neu an. Der zweite Versuch gerät ihr noch schlechter, also legt sie die Schreibwaren zurück in den Sekretär, öffnet die Haustür und tritt nach draußen. Gejohle dringt die Straße herauf. Die Festgemeinde hat die Kirche verlassen, jetzt zieht sie fahnenschwingend zum Dorfplatz. Für einen Moment steht Ruth auf der Schwelle, mit klopfendem Herzen und einem Ziehen in den Gliedern. Dann ruft sie Maria zu sich. Hol deine schönen Schuhe! Wir gehen zur Chilbi.

      Ruedi sieht sie zuerst. Er tippt Georg gegen den Arm und legt den Zeigefinger auf den Mund. Die Geiß äst am Hang. Kaum vierzig Meter ist sie entfernt. Lautlos steht Georg auf, lehnt den Bergstock gegen einen Baum, umgreift den Stock mit der Linken, legt die Büchse zwischen Daumen und Zeigefinger auf. Er blickt zu Ruedi, der mit seinem Gewehr im Anschlag am Boden liegt. Ruedi schüttelt den Kopf, er hat keine freie Sicht. Die Geiß gehört Georg.

      Der Schuss sitzt knapp hinter dem Blatt. Die Gams springt auf, macht kehrt und verendet nach kurzer Flucht. Georg schließt die Augen, sein Atem geht ruhig. Eine Weile verharren sie. Schließlich packen sie die Rucksäcke und steigen hinab, um das Tier zu bergen.

      Neben dem Hirschen, leicht erhöht, stellen sich Ruth und Maria in die hinterste Reihe. Es riecht nach Bratwürsten und Käseschnitten. Maria zerrt an der Hand ihrer Mutter. Ich will nach vorne!

      Das geht nicht, sagt Ruth, streicht ihr übers Haar und hebt sie Huckepack. Sie schauen zum Dorfplatz. Frauen in blauen Röcken. Rote Tücher lugen aus den Hosentaschen der ledigen Männer. Eltern, die ihre Kinder an der Hand halten, glückliche Familien. Wo sich die beiden Hauptstraßen kreuzen, ist eine Holzbühne aufgebaut. Zu dritt stehen sie oben, in bestickten Hemden, verkünden den Älplerspruch, nehmen den Gemeindepräsidenten auf die Schippe. Ruths Blick schweift umher. Sie kann Lussi nicht entdecken, auch den Gander und den Niederberger nicht. Warum bloß hat Georg ihre Warnung in den Wind geschlagen? Ein Schrei reißt sie aus ihren Gedanken. Maria zeigt auf den moosbehangenen Butzi. Er trägt eine schaurige Holzlarve, heult wie ein Wolf und mit einem Tannenast zwickt er Jungen und Mädchen, die vor ihm fliehen wollen. Als er näher kommt, nimmt Ruth ihre Tochter von der Schulter und legt den Arm um sie. Lass uns nach Hause gehen.

      Am Mittag dreht der Wind. Sie müssen weiterziehen. Georg schultert die Gams und sie steigen hoch zum Grat. In einer Kuhle finden sie Schutz, die Sonne hält ihre Körper warm. Erst am späten Nachmittag werden die Gämsen wieder aus der Ruhe kommen. Ein wenig Brot ist übrig geblieben, Ruedi zieht Landjäger aus dem Rucksack, danach trinken sie aus dem versilberten Flachmann. Georg betrachtet das erlegte Tier, zählt die Ringe an den Hörnern. Die Geiß hat sechs Jahre lang gelebt. Eine Fliege setzt sich auf Ruedis Unterarm. Sogar hier oben plagen sie einen, sagt er, fängt das Insekt und schüttelt es in der hohlen Hand. Georg schlägt ihm auf die Finger, Ruedi gibt die Fliege frei.

      Die Hände hinter dem Kopf verschränkt legt sich Georg auf den Rücken. Alpendohlen kreisen. Er schließt die Augen. Im Traum