Peter Zimmermann

Halt mir nur still


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ein Bild. Als er wieder erwacht, zieht er die Medaille aus der Brusttasche seiner Weste, dreht sie hin und her, hält sie so, dass sie einen Sonnenstrahl zurückwirft. Sie wird ihn beschützen.

      Ruth blättert in der Schweizer Illustrierten. Audrey Hepburn hat einen Oscar gewonnen, weit weg in Amerika. Mit den Fingern gleitet sie über das Bild der Schauspielerin. Ruth will den Text lesen, kann sich aber nicht konzentrieren. Sie legt die Zeitschrift weg und blickt zu ihrer Tochter. Maria kniet auf dem Stuhl und summt vor sich hin. Sie hält den Kopf schief, zieht die Augenbrauen zusammen. Dann hellt sich ihr Gesicht auf. Fertig, sagt sie und stellt den Pinsel ins Wasserglas. Sie hat einen Butzi im grünen Gewand und mit einem riesigen Hut auf dem Kopf gemalt.

      Der sieht aber böse aus, sagt Ruth.

      Ja. Maria pustet auf das Papier.

      Was hält er da in der Hand?

      Ein Gewehr.

      Ein Butzi hat doch kein Gewehr!

      Dieser aber schon. Maria schiebt das Blatt von sich weg. Ich bin draußen, sagt sie und rennt los.

      Eine Weile steht Ruth vor dem Bild, dann legt sie das Papier auf die offene Hand und trägt es zusammen mit Pinsel und Farbkasten in Marias Zimmer. Noch einmal fällt ihr Blick auf den Butzi. Das Herzklopfen kehrt wieder, das Ziehen in den Gliedern. Sie setzt sich auf Marias Bett. Es dämmert, obwohl es noch früh am Abend ist. Bald kommt der Winter. Dann sind auch sie eine glückliche Familie. Georg lässt das Wild in Ruhe. Die Tiere haben es schwer in dieser Zeit, sagt er. Da will ich sie schonen.

      Wenn du es im Winter sein lassen kannst, warum nicht im Rest des Jahres?

      Du hast gewusst, wen du heiratest, hat er zur Antwort gegeben. Sie streicht mit der Hand über die Decke. Ja, sie hat es gewusst. Schon immer hat sie die Wärme hinter seiner Schroffheit gespürt. Schon immer hat sie gespürt, dass er ein guter Vater sein würde. Doch damit war sie allein. Niemand im Dorf hat ihre Entscheidung verstanden und am allerwenigsten der Lussi. Nach der Hochzeit hat er zwei Jahre lang nicht mehr mit ihr geredet. Wie eifersüchtig er gewesen ist, wie sehr er Georg hasst! Musste ausgerechnet Lussi der neue Wildhüter werden? Ruth steht auf, öffnet das Fenster und blickt auf das Feld hinter dem Haus, auf den schmalen Trampelpfad, der sich im Wald verliert. Dort wird Georg herunterkommen, wenn es dunkel ist. Auf diesem Weg wird er heimkommen.

      Georg hört den Pfiff eines Murmeltiers und er weiß: Sie sind da. Er greift nach Gewehr und Feldstecher und robbt zum Rand der Kuhle. Das Glas braucht er nicht, so nahe sind sie schon. Zu dritt steigen sie den Hang hoch, zwei Hunde haben sie dabei. Lussi im dunkelgrünen Hemd, den Schlapphut ins Gesicht gezogen, das Gewehr geschultert. Niederberger und Gander stapfen ein paar Meter hinter ihm her. Ruedi hat sie auch gesehen. Wir müssen weg!, flüstert er.

      Georgs Blick fällt auf die Gams. Er kann sie nicht liegen lassen, das Tier gehört ihm. Er bringt die Büchse in Anschlag.

      Was machst du da?, fragt Ruedi.

      Die wissen doch längst, dass wir hier sind.

      Hast du den Verstand verloren?

      Nur ein Warnschuss. Das verschafft uns Zeit. Georgs Mund ist trocken, die Hand am Abzug zittert. Er drückt ab.

      Ruth schneidet eine Zwiebel, schält Kohlrabi und Karotten, wäscht einen Lauch. Maria steigt auf einen Hocker. Sie öffnet den Geschirrschrank, nimmt drei Suppenteller heraus und stellt sie auf den Tisch.

      Nur zwei, sagt Ruth. Papa kommt erst in der Nacht heim.

      Und wenn er früher kommt?

      Dann lass den Teller halt stehen, mein Schatz. Ruth schiebt das Gemüse vom Schneidebrett in den Topf, gibt Bouillon, Majoran und Thymian hinzu und legt den Deckel darauf. Danach holt Maria das Leiterspiel, gibt Ruth die blaue Figur, sich selbst die rote. Sie fängt an, würfelt eine Zwei, der Clown klettert ein Seil hoch und Marias Spielfigur landet auf der Neunundzwanzig. Später trifft sie die Sonnenblume, die sie von Feld Sechzig bis fast ins Ziel bringt. Sie jauchzt, während sie zieht, dann aber erstarrt sie, lässt die Figur aufs Brett fallen und dreht den Kopf.

      Was ist? Hast du etwas gehört?

      Marias Blick geht ins Leere, ihre Augenlider zittern. Nach ein paar Sekunden löst sich die Spannung in ihrem Körper. Sie schaut ihre Mutter an, als wäre sie aus tiefem Schlaf erwacht. Wortlos räumt sie Würfel und Figuren in die Schachtel.

      Geht es dir gut?, fragt Ruth.

      Wo ist Papa?

      Das weißt du doch. Er ist in den Bergen.

      Maria nickt. Sie streckt die Glieder und gähnt.

      Ruth horcht. Außer dem Köcheln der Suppe ist nichts zu hören.

      Als Ruedi eine Kugel über den Kopf fliegt, lässt er alles liegen und rennt los. Georg folgt ihm einige Meter, danach wechselt er die Richtung. Nur einen sollen sie kriegen, wenn überhaupt.

      Er steigt die Felsen hinab, immer wieder gerät er ins Rutschen. Nach ein paar Minuten hört er es erneut krachen. Er duckt sich und lauscht. Außer seinem Keuchen ist nichts zu hören. Dann bellen die Hunde los. Er muss weiter. Er gelangt zu einer schwierigen Stelle, drei Meter geht es in die Tiefe. Als er landet, knickt der linke Fuß um. Georg fällt auf die Hände, eine Steinspitze bohrt sich in die Haut. Eine Weile liegt er im Geröll, fast ist es ihm, als könnte er das Hecheln der Hunde hören. Schließlich rollt er zur Seite, wischt das Blut an den Hosen ab und zieht sich am Felsen hoch. Vorsichtig tritt er auf, beißt auf die Zähne und macht drei Schritte. Noch einen, dann sieht er es ein: Es hat keinen Sinn.

      Die Büchse lehnt er gegen einen Stein. Er zieht die Medaille aus der Brusttasche, küsst sie und steckt sie wieder zurück. Hier!, ruft er. Ich bin hier! Er blickt an der Wand hoch. Das Blau des Himmels ist einem flächigen Grau gewichen. Niemand ist zu sehen. Georg dreht sich um und schaut ins Tal. Baumwipfel schwanken im Wind. Da fährt ihm ein brennender Schmerz in den Rücken.

      Mitten in der Stube steht sie, mit nackten Füßen, den Plüschhasen im Arm. Ruth hat aus dem Fenster in die Dunkelheit gestarrt und sie nicht kommen gehört.

      Was ist, mein Schatz? Kannst du nicht schlafen? Sie nimmt ihre Tochter in den Arm. Trink ein Glas Milch. Danach schlüpfst du wieder unter die Decke und ich lese dir eine Geschichte vor.

      Ich war mit Papa in Omas Garten.

      Das hast du geträumt?

      Ja.

      Ist etwas Schlimmes passiert im Traum?

      Maria schüttelt den Kopf. Ruth streicht ihr über die Wange. Krümel hängen in Marias Mundwinkel. Hast du Schokolade gegessen?, fragt Ruth, streicht ihr über die Lippen und leckt am Finger.

      Ja.

      Wo hast du sie her? Hast du welche im Zimmer versteckt?

      Papa hat sie mir gebracht.

      Wann?

      Bevor wir in den Garten sind.

      Vorhin?

      Ja.

      Ruth steht auf, beinahe stößt sie Maria um. Georg? Sie rennt die Treppe hoch. Sie reißt die Tür auf und macht das Licht an. Das Zimmer ist leer. Ruth schlägt mit der flachen Hand gegen die Wand. Was hat sie erwartet? Dass Georg sich ins Haus geschlichen hat, an ihr vorbei und in Marias Zimmer?

      Wo ist die Schokolade?, ruft sie nach unten. Bei uns wird nicht gestohlen.

      Maria bricht in Tränen aus. Ich habe nicht gestohlen! Wir haben gebetet und Papa hat mir die Schokolade gegeben.

      Georg schlägt die Augen auf. Ein verschwommener Schatten schiebt sich vor den Himmel, nach einer Weile erkennt er Ruedis Gesicht. Was ist passiert?

      Sie sind weg, sagt Ruedi. Alles ist gut. Nimm meine Hand.

      Georg setzt sich auf. Die Schmerzen im Rücken sind weg, auch der Fuß tut nicht mehr weh. Warum sind sie umgekehrt?, fragt er. Die hatten uns ja schon fast.

      Ruedi lacht auf. Fast, sagt er und grinst. Komm, steh