Verwaiste Lounges sind zu Gruppenzimmern umfunktioniert. In einem Glaskasten am Treppenabsatz vor dem Fahrstuhl überprüft ein Wächter die Passierscheine und weist Zimmer und Lebensmittelkarten zu.
Trotz aller Ideale ist das Leben im Hotel von Hierarchien und Regeln dominiert. Es gibt es drei Kategorien von Genossen: Unten stehen das technische Personal und Mitarbeiter der Jugendinternationale; in der Mitte Kader, Redakteure und Assistenten. An der Spitze Parteiführer und Vertreter ausländischer Parteien. Die höheren Ränge bekommen größere und hellere Räume, mehr und bessere Nahrung, Kleidung und Toilettenartikel. Walter ist noch ein kleiner Kader unter vielen und muss sich mit mageren Rationen abgeben. Die Hierarchien sind klar und werden starr beachtet. Unmöglich, daran zu rütteln.
Die Büros der Komintern sind nur einen kurzen Fußmarsch vom Lux entfernt, Ecke Mochowaja Straße und Wosdwischenka Straße nahe dem Alexandergarten des Kremls. Jede Parteidelegation hat hier ein bis zwei Zimmer. Im Eingang steht eine Wache mit Polizisten, die Fremdsprachen verstehen. Besucher kommen nur ins Haus, nachdem eine Wache mit dem Büro telefoniert hat und die Delegation ihre Besucher abgeholt hat.153 Für Walter führen jetzt alle Wege zu dem dreistöckigen neoklassizistischen Gebäude im Herzen der Stadt. Alle wichtigen Institutionen sind in Sichtweite. Der Kreml, der Rote Platz, die Staatsbibliothek und das Marx-Engels-Institut sind um die Ecke, das Haus der Gewerkschaften auf der anderen Straßenseite. Nicht ohne Stolz schickt er Martha „herzliche Grüße aus dem Lande der proletarischen Herrschaft“154. Außerhalb des Kremls ist Moskau noch stark vom Bürgerkrieg gezeichnet. Obdachlose Kinder und Flüchtlinge der Hungersnot an der Wolga und im Ural streifen bettelnd durch die Stadt, machen Feuer, um sich zu wärmen. Auch Walter ist nicht gleichgültig. Um zu helfen, kauft er einen Stapel Postkarten der Internationalen Arbeiterhilfe für die Notleidenden – „der Reinertrag fließt den Hungernden zu“155.
Gleichzeitig verknüpft er die Situation mit dem politischen Kampf. Noch aus Moskau schreibt er für die „Neue Zeitung“ in dem Artikel „Die Taktik der Kommunistischen Internationale“, dass „die Tätigkeit der Kommunistischen Parteien in dieser Periode besonders schwierig [ist]. […] Gerade in dieser Situation haben die kommunistischen Parteien die Aufgabe, […] die proletarischen Massen unter Anknüpfung an ihre täglichen Nöte zu aktivieren“156. Auf dem Weltkongress selber arbeitet er an Programm-, Gewerkschafts-, Genossenschafts- und Jugendfragen. Höhepunkt ist die Rede Lenins „Fünf Jahre russische Revolution und die Perspektive der Weltrevolution“157.
Zur allgemeinen Überraschung besucht Lenin nach seiner Rede die deutsche Delegation. Er ist überarbeitet, sein Gesicht blass und eingefallen, von Krankheit gezeichnet. Er muss sich zusammennehmen und spricht nicht lange. Trotzdem schüttelt er nach dem Gespräch Walter und der restlichen Delegation die Hand und wünscht alles Gute. Die meisten bleiben noch eine Weile in Moskau, um bei Tee und Brot privat zu sprechen.158 Ende Dezember kehrt Walter nach Jena zurück, wo die Polizei längst wieder nach ihm fahndet. Kaum zurück stürzt sich Walter mit gewohntem Fleiß in die Funktionärsarbeit und wertet auf dem Bezirksparteitag in Erfurt den Weltkongress aus.
Den Entschlüssen des Kongresses folgend, beginnt er mit einer Arbeit, die ihm den Spitznamen „Genosse Zelle“ einbringt: die Gründung von Betriebszellen. Anders als die traditionelle Gliederung nach Wohngebieten soll die KPD fest in Betrieben verwurzelt werden, in kleinen, straff geführten und disziplinierten Betriebszellen. Die Kommunisten sollen nach Lenins Doktrin die Avantgarde der Arbeiterklasse sein und so den Kampf gegen die Bourgeoisie vorantreiben.
Wie erwartet bestätigt der Bezirksparteitag Walter als Delegierten Thüringens für den VIII. Parteitag im Februar 1923 in Leipzig. Der Parteitag wird für ihn ein großer Erfolg: Noch keine dreißig Jahre alt, wird er in die Zentrale und zum Sekretär des Politbüros gewählt. In einem kurzen Diskussionsbeitrag stellt er sich als Anhänger der herrschenden Rechten, als „Brandlerianer“ vor und kritisiert die Parteilinken um Ruth Fischer. Noch kennen ihn lediglich wenige Delegierte und er erhält nur 112 Stimmen. Wenig, verglichen mit den 166 Stimmen für den Parteivorsitzenden Brandler. Aber die Wahl ist ein weiterer wichtiger Schritt auf der Karriereleiter. Zwar hat Walter eigentlich wenig Lust, Jena zu verlassen und nach Berlin weitab seiner Familie zu ziehen, doch Beschluss ist Beschluss.
Der Parteitag findet in einer Atmosphäre extremer politischer Spannungen statt. Nur drei Wochen zuvor haben alliierte Truppen das Ruhrgebiet, Deutschlands industrielles Herz, besetzt, um 269 Millionen Goldmark ausstehender Reparationen einzufordern. Die Regierung hat darauf zum passiven Widerstand aufgerufen, niemand soll mit den Besatzern zusammenarbeiten. Der Generalstreik soll Frankreich daran hindern, sich aus den Zechen und Stahlwerken der Ruhr zu bedienen. Das gelingt nur teilweise. Vor allem hat der Streik aber Folgen für Deutschland. Die Gelddruckmaschinen werden angeworfen, um den Streik zu bezahlen. Die Inflation wird zur Hyperinflation, die bereits geschwächte Mark fällt ins Bodenlose. Bald ist das neugedruckte Geld das Papier nicht mehr wert, auf dem es gedruckt ist. Streiks, Plünderungen und Hungerunruhen erschüttern das Land. Rechte Politiker, Militärs und Unternehmer denken über eine „nationale Diktatur“ nach. Angesichts des Chaos ringen die Delegierten auf dem Parteitag um die richtige Strategie. Teile des Exekutivkomitees glauben, dass die Zeit für einen Aufstand reif ist. Wie soll man weiter vorgehen? Ist es Zeit für eine Revolution? Soll die KPD mit der SPD zusammenarbeiten oder ist nur ein Umsturz nach sowjetischem Vorbild erlaubt?
Auf der Linie der Komintern argumentiert Walter gegen die Mehrheit der Delegierten, man dürfe sich erst an einer Regierung beteiligen, wenn das Reich direkt vor der Diktatur des Proletariats stehe.159 Zwei Tage nach dem Ende des Parteitags zieht Walter zurück zu seiner Familie nach Leipzig.160 Als Mitglied der Zentrale pendelt er ab jetzt von dort nach Berlin. Die Polizei fahndet nach ihm, doch sein Aufenthaltsort lässt sich nicht feststellen. Ein Foto von ihm ist nicht vorhanden und es ist nicht möglich, eines zu beschaffen. Martha wird verhört und behauptet, auch kein Foto von ihrem Mann zu besitzen. Von den Nachbarn wird Walter sehr allgemein als etwa 1,65 Meter groß, schlank, bartlos, mit gesunder Gesichtsfarbe und blondem, welligem Haar beschrieben.161 Ansonsten hat die Polizei kaum Informationen zur Fahndung.
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