Florian Heyden

Walter Ulbricht. Mein Urgroßvater


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ist bereits „eine Deputation der A- und S-Räte […] bei der Regierung in Dresden vorstellig geworden und hat sie zum Rücktritt aufgefordert“101. Zwar verwirft die KPD den Plan insgeheim als inkompetent und umstürzlerisch, unterstützt ihn aber öffentlich.

      Nachdem die Leipziger Bürgerschaft zum Gegenstreik übergeht und Einwohnerwehren bildet, versucht die Streikleitung, ihre Ziele noch einmal zu erzwingen. Streikende besetzen die Bahnhöfe der Stadt. Revolutionäre verhaften den Amtshauptmann, stellen den Direktor der Reichsbankfiliale unter Hausarrest und ertrotzen Gelder, um Löhne und Krankengeld weiterzuzahlen. „Die bürgerlichen Zeitungen dürfen in Leipzig nicht erscheinen, nur die Leipziger Volkszeitung kommt heraus.“102 Die Revolutionäre merken nicht, dass sie die Macht längst wieder verloren haben. Die Arbeitgeber stellen die Lohnfortzahlung ein, entlassen alle Streikenden und melden sie bei der Ortskrankenkasse ab. Freikorps entwaffnen die Arbeiter und werben Denunzianten. Als Demonstranten in Dresden den sächsischen Kriegsminister Neuring lynchen, verhängt die Regierung den Belagerungszustand.

      Damit setzt sie die Versammlungs- und Pressefreiheit außer Kraft und verbietet die „Rote Fahne“. Das Militär besetzt die Stadt, um endgültig Ruhe schaffen: „Haussuchungen und Verhaftungen können […] zu jeder Zeit vorgenommen werden. […] Es ist verboten […] zu Streiks aufzufordern […]. Alle Versammlungen unter freiem Himmel sind verboten.“103 In Anbetracht der aussichtslosen Lage lenkt die Streikleitung ein und will verhandeln. Die Arbeiter fordern jetzt einzig, dass Großunternehmen Betriebsräte einsetzen. Doch die Arbeitgeber sind nicht zu den geringsten Konzessionen bereit. Damit ist der Streik am Ende.104 Anders als viele andere Streiks im Reich verläuft der Streik in Leipzig zwar friedlich, letztlich aber genauso erfolglos. Die Revolution ist in Leipzig zu Ende. Jetzt wird auch Walter demobilisiert und aus der Armee entlassen.105 Er hat damit weder Sold noch Krankenversicherung. Als lokaler KPD-Funktionär leitet er zwar unter jüngeren Arbeitern und Lehrlingen Versammlungen und betreibt Agitation,106 aber um zu überleben, muss er neben der ehrenamtlichen Parteiarbeit außerdem noch in einer kleinen Werkstatt in der Dresdner Straße als Tischler arbeiten. Als sein Meister ihm als gesuchtem Kommunisten bald wieder kündigt, folgt Walter dem Beispiel seiner Mutter und schlägt sich mit einem Tafelwagen mehr schlecht als recht als Markthelfer in der Jacobsgasse durch. In seinem Ausweis steht unter Beruf jetzt „Tischler und Markthelfer“.

      Die Leipziger Polizei entfernt schließlich die revolutionären roten Armbinden von ihren Uniformen. Die Revolution ist vorbei. Drei Tage später treffen sich Leipzigs sozialistische Jugendorganisationen „aufgrund der bestehenden Verhältnisse“ im Volkshaus, um eine bessere Zusammenarbeit und Führung zu besprechen.107 Die Jugendlichen haben allen Grund zur Sorge. Aufgrund des Belagerungszustands marschiert die Reichswehr unter General Maercker mit 15 000 Soldaten auf Leipzig zu. Gegen Walter liegt ein Haftbefehl vor. Vorerst entgeht er der Festnahme durch Glück und Kaltblütigkeit. Noch am selben Tag druckt die Leipziger KPD ein Flugblatt, in dem es die Arbeiter auffordert, Maercker an der Grenze Sachsens „zu empfangen“ und den Weg nach Leipzig zu verstellen.

      Walter arbeitet weiter unbezahlt in der Propaganda und spricht auf Versammlungen. Der KPD-Versandraum ist in einem Pferdestall in einem Hinterhof. Der Besitzer der Sattlerei im Vorderhaus sympathisiert und lässt die Gruppe durch sein Geschäft ein- und ausgehen.108 Walter erweist sich als Organisationstalent. Die Sittenpolizei verdächtigt ihn wegen seiner Kontakte mit Prostituierten, ein Zuhälter zu sein. Was sie nicht wissen, ist, dass er unter den Frauen ein Netzwerk aufbaut, um Maerckers Truppen auszuhorchen. So ist er über die Pläne der Reichswehr im Bilde.

      Aber das Landjägerkorps lernt auch schnell und schreibt, dass Walter „in letzter Zeit auffallend viel mit der Telephonistin Käte Reif im Café Astoria [verkehrt]. Höchstwahrscheinlich, weil er von diesen abgehörten Militärgesprächen erfährt. [Er] geht jetzt stets in Zivil, während er vor dem Einrücken der Regierungstruppen nur Uniform trug. Überwachung der genannten Personen, auch durch Kriminalbeamte ist erforderlich. Bei besonderen Feststellungen sofort Meldung an Jägerstab“109. Tatsächlich tut die Armee alles, um ihn zu erwischen. Selbst vor der Wohnung der Familie Ulbricht fährt eine Reichswehrabteilung mit Maschinengewehr auf, um ihn zu verhaften. Weil Leipzig zu gefährlich wird, reist Walter für die Partei nach Flensburg. Hier hat die Revolution nur wenig Echo gefunden. Eine KPD-Gruppe gründet sich erst kurz vor Walters Ankunft. Es mangelt an Kadern, ein Organisationstalent wie Walter wird dringend gebraucht. Zwei Wochen später veröffentlicht das Standgericht I in Leipzig einen weiteren Haftbefehl gegen ihn. Obwohl die Polizei sogar Walters Vater verhaftet und verhört, kommen die Ermittlungen nicht voran.

      In Berlin tritt am 20. Juni 1919 das Kabinett Scheidemann zurück. Am Tag darauf bildet der Sozialdemokrat Bauer ein neues Kabinett aus SPD und Zentrum. Die neue Regierung erklärt sich zur Annahme des Versailler Vertrags bereit, falls Deutschlands alleinige Kriegsschuld gestrichen werde. Die Alliierten lehnen ab, die Reichswehr prüft, ob man weiterkämpfen könne. Es hilft nichts.

      Am 28. Juni 1919 unterzeichnet die deutsche Delegation unter Protest den „Diktatfrieden“. Erst mit der Ratifizierung des Friedensvertrags heben die Alliierten die Seeblockade einen Monat später auf. Langsam verbessert sich die katastrophale Versorgungs- und Ernährungslage, aber Hunger und Not bleiben allgegenwärtig. In Weimar verabschiedet die Nationalversammlung mit 262 Ja- gegen 75 Nein-Stimmen die neue Verfassung. Das Reich wird zur bürgerlichen Republik. Die Revolution ist vorbei. Nach drei Monaten kehrt Walter aus Flensburg nach Leipzig zurück.110 Hier wohnt er wieder bei seinen Eltern. Kurz darauf ist Freundin Martha schwanger.

      Nach seiner Ankunft ermittelt die Polizei Walter als Leiter der Parteifinanzen in Mitteldeutschland und weist Hausdurchsuchung, Leibesvisitation, Beschlagnahmungen und Schutzhaft an.111 Zu dieser Zeit führt Walter für die Partei ein Postscheckkonto mit 11 433 Reichsmark.112 Er geht in der Parteiarbeit voll auf, arbeitet sowohl als Redner in Werdau und Zwickau als Mitglied der Bezirksleitung Westsachsen als auch im Literaturvertrieb.113 Unterdessen schreibt er für die Parteizeitung „Klassenkampf“ und leitet die kleine illegale Parteischule in Schkeuditz. Wie gerade selbst noch, lehrt er jungen Genossen dialektischen und historischen Materialismus, das „Kapital“ und Lenins’ „Staat und Revolution“. Weil die Parteiarbeit ehrenamtlich ist, arbeitet er tagsüber als Tischler, als Markthelfer und hat Gelegenheitsjobs. Stellenweise ist er arbeitslos gemeldet. Trotz der eigenen schwierigen Lage glaubt Walter, dass die Stunde der Revolution da sei. Als ein USPD-Referent der Sozialistischen Jugend im Jugendheim in der Töpfergasse erklärt, der Höhepunkt der Revolution sei überschritten, widerspricht ihm Walter heftig. Ganz im Gegenteil mache Deutschland jetzt wie Russland vor zwei Jahren eine „Kerenski-Periode“ durch. Auch hier werde das Proletariat bald die Macht erobern. In Russland selbst sieht es dagegen eher aus, als würde die Revolution scheitern. Die Rote Armee ist kaum einsatzfähig, ihr Gebiet ist auf Moskau, Petrograd und Tambow geschrumpft. Die Alliierten verhängen eine Wirtschaftsblockade über Sowjetrussland.

      Das Blatt wendet sich erst als die Rote Armee unter Trotzki im November 1919 überraschend die Weißen Truppen bei Petrograd schlägt. Walter findet schließlich eine neue Arbeit bei der Tischlerei Paul Bielitz in Leipzig-Volkmarsdorf. Kaum einen Monat später verhaftet die Polizei ihn allerdings in seiner Wohnung. Im Verhör geht es vor allem um seine Rolle beim Verteilen von KPD-Flugblättern. Er überzeugt die Polizei von seiner Unschuld und kommt nach einigen Tagen frei.114 Seine Arbeit verliert er nach der Haftentlassung dennoch.

      Der zweite Parteitag der KPD findet in Heidelberg statt. Da die Partei immer noch illegal ist, müssen die Delegierten mehrmals den Tagungsort wechseln. Die Tagung ist geprägt von der Auseinandersetzung zwischen der Zentrale und dem ultralinken Flügel. Die Parteiführung plädiert dafür, sich bei Gewerkschaften zu engagieren und sich an Reichstagswahlen zu beteiligen, während die Ultralinken meinen, die Partei solle eigene Gewerkschaften aufbauen und Wahlen boykottieren. Damit beginnt die Spaltung der Partei. Zwar kostet die Spaltung fast die Hälfte der etwa 100 000 Mitglieder, bereitet aber die Annäherung an die USPD vor. Der folgende Parteitag der USPD in Leipzig ist das zweite „große Ereignis dieses Jahres in der Entwicklung des deutschen Proletariats und damit der deutschen Revolution“115. Die Partei schließt eine Kooperation mit der Mehrheits-SPD aus und hält an