Für sein Engagement wird er zum engsten SPD-Funktionärskreis, der „Korpora“, zugelassen.66 Otto Heyden bleibt vorerst in Leipzig bei Familie Ulbricht in der Alexanderstraße. In Leipzig findet er Arbeit, schließt sich wie Walter dem Jugendbildungsverein an und kommt über Ulbrichts in Kontakt zu den Naturfreunden. Zusammen besuchen Otto und Walter im Juli das Leipziger Gewerkschaftsfest. Otto gefällt es bei Ulbrichts so gut, dass er vergisst, nach Hause zu schreiben. Seine Mutter stichelt mit den Worten „bei Herrn Ulbricht“: „Wir möchten uns doch erlauben anzufragen, ob du noch lebst.“67
Ab November 1912 arbeitet Walter für vier Monate bei der Tischlerei Bruno Börner im Norden Leipzigs. Neben der Arbeit hat er ein großes Netzwerk aus Freunden und Gleichgesinnten. Das Umfeld tut den Jugendlichen gut. Bei der Hochzeit ihres Parteigenossen Alfred Arnholds Ende November treffen sich noch einmal alle Angehörigen und Freunde der Jugendgruppe.68
Im März 1914 verliert Walter seine Arbeit bei der Tischlerei Börner, kann aber schon kaum einen Monat später bei Max Kliem anfangen. Doch auch ohne Arbeit hat Walter genug zu tun. Er arbeitet durchgehend in der Jugendgruppe Alt Leipzig. Freunde erinnern sich an „sein stetes Lächeln, Kennzeichen aller Ulbrichts; er hatte langes blondes Haar, trug damals schon ein Bärtchen und den unvermeidlichen Schillerkragen“69.
Seit seiner Rückkehr liegt „Gewitter“ in der Luft, es riecht nach Krieg. In den schwül-warmen Sommertagen nach dem Attentat auf den Thronfolger Österreich-Ungarns am 28. Juni 1914 in Sarajewo jagen sich die Ereignisse. Noch im Juli veröffentlicht der SPD-Parteivorstand einen Aufruf gegen den Krieg, der für den jetzt 21-Jährigen von einschneidender Bedeutung ist: „Das klassenbewusste Proletariat […] fordert gebieterisch von der deutschen Regierung, dass sie ihren Einfluss auf die österreichische Regierung zur Aufrechterhaltung des Friedens ausübe und falls der schändliche Krieg nicht zu verhindern sein sollte, sich jeder kriegerischen Einmischung zu enthalten. […] Parteigenossen, wir fordern Euch auf, […] den unerschütterlichen Friedenswillen des klassenbewussten Proletariats zum Ausdruck zu bringen. […] Gefahr ist im Verzuge! Der Weltkrieg droht! Die herrschenden Klassen, die Euch im Frieden knebeln, verachten, ausnutzen, wollen Euch als Kanonenfutter missbrauchen.“70
Walter nimmt das Engagement gegen den Krieg ernst. Am nächsten Tag geht er zum Gewerkschaftsfest in Leipzig, das mit 30 000 Teilnehmern zur eindrucksvollen Demonstration gegen den Krieg wird. Die Leipziger SPD jedoch bietet kein einheitliches Bild. Ihre Führung hat sich mit dem Krieg abgefunden. Der nationalliberal-dominierte Rat der Stadt verbietet eine Demonstration der SPD auf dem Messplatz. Kundgebungen sollen unauffällig „im Saale“ stattfinden. Als Kompromiss vereinigen sich 70 000 Demonstranten nach getrennten Kundgebungen in verschiedenen Sälen zum gemeinsamen Demonstrationszug. Am Tag nach der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien demonstrieren noch einmal 200 000 Menschen in Leipzig. In der Stadt hallen die Sprechchöre gegen den Krieg.71 Von Versammlungsorten wie dem Volkshaus ziehen die Massen die Internationale singend durch die Innenstadt bis zum Augustusplatz. Nach der Demonstration denkt jeder, dass die Regierung es nicht wagen wird, einen Krieg anzufangen.
Die deutsche Kriegserklärung vier Tage später erschüttert Walter. Bestürzt liest er die Plakate zur Mobilmachung und hört die Menschen begeistert brüllen. Die SPD ist verstummt. Ihre Reichstagsfraktion stimmt nach einer flammenden Rede des Kaisers dem Burgfrieden zu und am 4. August 1914 geschlossen für Kriegsanleihen und das Ermächtigungsgesetz. Walter trifft sich am nächsten Tag mit Genossen, um zu besprechen, was zu tun ist. Die Gruppe besteht darauf, dass das Friedensmanifest des Internationalen Sozialistenkongresses nicht Schall und Rauch sein kann. Die Jugendlichen verstehen die Welt nicht mehr. Sie diskutieren über ihre Mitgliedschaft in der SPD und warum Liebknecht trotz seiner Stellungnahme in der Fraktion im Reichstag für die Kriegskredite gestimmt hat. Nach fünf Monaten bei Kliem ist Walter ab September erneut arbeitslos. Eine andere Arbeit nimmt ihn stärker in Anspruch. Walter verfasst und verbreitet mit anderen Jungfunktionären Flugblätter gegen den Krieg, die die Gruppe in kleiner Auflage per Abziehapparat herstellt. Er schreibt eifrig Manuskripte, aber muss seine Arbeit oft wieder mitnehmen, weil die Gruppe die Flugblätter nicht drucken kann. Nur gelegentlich gelingt es, Setzer und Drucker zu überreden, eine größere Auflage herauszubringen.72 In der Not springen befreundete Stenotypistinnen ein um Flugblätter per Schreibmaschine herzustellen. Als Liebknecht im Dezember alleine offen gegen die Kriegskredite stimmt, geht auch Walter mit anderen Jungfunktionären in Opposition. Die Gruppe vervielfältigt und verbreitet im Volkshaus illegal Liebknechts Rede „Zur Begründung eines Minderheitenvotums gegen die Kriegskredite“73.
Mithilfe der Buchdruckerei Müller in Schkeuditz druckt die Gruppe die Reichstagsrede gegen den Krieg in Leipzig. Bei der nächsten Zusammenkunft beschließt die Gruppe, in der kommenden Funktionärskonferenz Leipzigs zu sprechen. Auf der nächsten Versammlung der Leipziger SPD fordert Walter wie besprochen, die SPD solle jetzt gegen weitere Kriegskredite stimmen. Als er versucht, eine Resolution gegen die Politik des Parteivorstands durchzubringen, greift ihn der Bezirksvorstand scharf an. Die Bezirksleitung verhindert die Abstimmung und lehnt Walters Antrag ab. Drohend fragt die Leitung ihn rhetorisch, warum das Militär ihn noch nicht eingezogen habe. Auf der nächsten Versammlung im Januar 1915 geht Walter weiter auf Konfrontation. Er hält eine leidenschaftliche Rede gegen die Kriegskredite und verlangt vom Vorstand, objektiv über Liebknechts Reichstagsrede zu informieren. Zwar verhindert die Leitung wieder einen Beschluss, aber Walter erhält den Beifall der Versammlung. Die Admiralität erklärt am 4. Februar 1915 die Nordsee zum Kriegsgebiet. Ab jetzt wird jedes in diesem Kriegsgebiet angetroffene feindliche Kauffahrtschiff zerstört werden. Die Gruppe um Walter greift den U-Boot-Krieg in Flugblättern scharf an74 und verbreitet Titel wie „Disziplinbrüche“, „Parteidisziplin“, „Die Welt speit Blut“, „Der Hauptfeind steht im eigenen Lande“, „Wohin geht die Reise“.
Immerhin kehrt Walter zur Arbeit zurück. Er arbeitet wieder als Tischler bei Gustav Heinrich, doch auch diese Stelle hält ihn nicht lange. Walter ist rastlos. Die Partei ist ihm wichtiger.
Jetzt zieht die Armee auch Liebknecht ein. Bis auf sein Auftreten im Reichstag und im Preußischen Abgeordnetenhaus ist ihm damit als Militär jede politische Arbeit verboten. Trotzdem bleibt er die Leitfigur der Friedensbewegung. Im März verbreiten die Jugendlichen, die sich jetzt „Gruppe Liebknecht“ nennen, als Reaktion auf Liebknechts Aushebung ein Flugblatt mit dessen Rede im Preußischen Landtag in größerer Auflage.
Die Partei sieht Walter als Unruhestifter. Um ihn auszuschalten, denunziert die Bezirksleitung unter Lipinski ihn wie schon angedroht bei der Reichswehr als Kriegsgegner. Kurz darauf zieht das Heer ihn im Mai zum Kriegsdienst ein. Zum Abschied schenkt er seiner Freundin Martha den Band „Lebensfreude, Sprüche und Gedichte“ mit der Widmung „Vorwärts sehen, vorwärts streben, keinen Raum der Schwäche geben, Schönem und Edlem allzeit hold! Wahlspruch – Meiner Freundin – Frühjahr 1915 – Walter“75.
Nach einer kurzen Ausbildung in der Prinz Johann Georg Kaserne in Gohlis und auf dem Übungsgelände in Lindenthal kommt Walter als Handwerker beim Wagenbau zur Fuhrpark-Kolonne im Trainbataillon 19. Der Gefreite dient vier Jahre im Königlich Sächsischen 8. Infanterie-Regiment Prinz Johann Georg Nr. 107 in Galizien und Polen, dann in Serbien und Mazedonien. Beim Militär ist er als „Roter“ bekannt. Sein Dienst wirkt auf ihn wie ein Strafbataillon: Es ist ihm „zeitweilig beinahe unmöglich, mit den Kameraden ein auch nur einigermaßen vernünftiges Wort zu reden“76.
Zu Ostern 1916 versammeln sich die oppositionellen SPD-Jungfunktionäre im Vegetarischen Speisehaus „Academia“ in Jena. Die Konferenz findet wegen des Belagerungszustands unter schwierigen Bedingungen statt. Allen Teilnehmern droht für ihre Teilnahme an der Konferenz Haft, Gefängnis, Schutzhaft und Einberufung zum Heer. Zur Tarnung ist die Zusammenkunft als Treffen der Naturfreunde angemeldet. Die Leipziger Delegierten schicken Walter in Briefen Bruchstücke von den Ergebnissen der Konferenz an die Front. Walter deutet in seiner Antwort an, dass er „draußen“ weiterlernt. Auch der Kontakt zur Schweizer sozialistischen Jugend, die er noch von seiner Wanderschaft kennt, besteht weiter. Aus Basel bittet Jacob Herzog die Familie um Neuigkeiten von Walter, da er von ihm keine Nachricht mehr habe und ihm seine Adresse unbekannt sei. Er bittet, ihm nach Erhalt der Karte eine Nachricht zu senden