Florian Heyden

Walter Ulbricht. Mein Urgroßvater


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zu helfen. Besonderen Dank schulde ich – neben zahllosen anderen – Andrea Bentschneider, Kirill Chashchin für unzählige Stunden Recherche, konstruktiver Kritik, Erstellung, Ausarbeitung und Durchsicht des Manuskripts. Weiter danke ich vor allem den Russischen und Deutschen Bundesarchiven, dem Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig, dem Englischen Nationalarchiv und besonders Jörg und Alain.

      Heranwachsender

      Walter Ulbricht wächst in bescheidenen Verhältnissen in Leipzig auf. Sein Vater, der Schneidermeister Ernst August, und seine Mutter Pauline umsorgen ihn und seine beiden jüngeren Geschwister liebevoll. „Große Sprünge“ wie den Besuch einer weiterführenden Schule können sie ihren Kindern nicht bieten.

      Mein Urgroßvater kommt am 30. Juni 1893 um halb zwölf Uhr mittags in einer bescheidenen Dachwohnung in der Gottschedstraße3 im Westen Leipzigs zur Welt. Seine Eltern, Schneidermeister Ernst August Ulbricht und seine Frau Pauline, sind seit einem Jahr verheiratet und leben erst seit einem halben Jahr zusammen hier. Ihre Hochzeit war vor kaum vier Monaten im Februar 1892 in Leipzig. Die Ulbrichts sind beide als überzeugte Sozialisten politisch hochaktiv. An den Stadtverordnetenwahlen kann aber nur teilnehmen, wer das Bürgerrecht besitzt. Nach Anfrage des Stadtrats beim Polizeiamt um ein Führungszeugnis4 leistet Ernst August Ulbricht daher dem Aufruf der SPD folgend am 10. August 1892 seinen Bürgereid. „Vater Ulbricht“ ist mit Leib und Seele sozialdemokratischer Parteifunktionär. Die Alexanderstraße ist Ernst Augusts Agitationsbezirk. Mit dem Parteilokal im Restaurant Morgenröte in der Hauptmannstraße gehört er der Mitglieder-, Zeitungs- und Bürgerrechtskommission des Bezirks Westen I an. Pauline ist im sechsten Monat schwanger, als das junge Ehepaar am 28. März 1893 frisch verheiratet ihre Dachwohnung in der Gottschedstraße bezieht. Das Haus ist erst zehn Jahre alt und eine gute Adresse: Hausbesitzer Wolanke achtet auf den Ruf seiner Mieter, „gutes Bürgertum“ mit ehrbaren Berufen, vom Architekten bis zum Rechtslehrer. Der spätere Reichskanzler Gustav Stresemann wird wenige Jahre nach den Ulbrichts im Haus wohnen. Am 15. Oktober lassen Ernst und Pauline ihren Sohn evangelisch auf den Namen Walter Ernst Paul taufen. Pate ist ihr Nachbar, Hochschullehrer Lincke: „Paul Hugo Lincke, Rechtslehrer aus der Gottschedstr. 4, wünscht seinem lieben Patenkinde Walther [sic] Ernst Paul Ulbricht fröhliches Gedeihen zum Tauftag am 15. Oktober 1893.“5

      Ihr Sohn gedeiht. In der Gottschedstraße, an der Grenze des Naundörfchens, teilt sich die Familie mit den anderen Hausbewohnern einen Garten, ein kleines Privileg. Er wächst liebevoll von seinen Eltern umsorgt auf. Die Familie hat es ansonsten nicht leicht. Ursprünglich kommen die Ulbrichts vom Land. Walters Großeltern väterlicherseits stammen aus Krummenhennersdorf zwischen Dresden und Chemnitz, Paulines Familie aus Schildau in Torgau. Großvater Heinrich Ferdinand Ulbricht hat als Bergschmied bei Freiberg gearbeitet, der Vater Ernst, im März 1864 geboren, ist in Leipzig ein Schneidermeister, dessen Arbeit die Kunden schätzen: „Herr Schneider Ulbricht war ein guter Schneider, […] Rauchwarenhändler Martin Marcus und seine Söhne sowie andere verwöhnte Herren ließen bei ihm arbeiten.“6 Trotz Anerkennung kommt die Familie finanziell nur schlecht über die Runden und Walters Mutter Pauline näht für die Nachbarschaft. Sie hilft auf dem Markt aus und verkauft Gemüse, um die karge Familienkasse aufzubessern. Knapp drei Jahre nach der Geburt muss die Familie am 8. April 1896 umziehen, denn sie kann sich die steigende Miete in der Gottschedstraße nicht mehr leisten.7 In den Nachwuchs investieren die Eltern trotz knapper Kassen. In der Vorschulzeit besucht Walter den Leipziger Pestalozzi-Kindergarten, um ihn umfassend zu fördern, sein Gemeinschaftsgefühl zu stärken und ihn seine eigenen Begabungen entdecken zu helfen

      Ein Jahr später treten Walters Eltern 1897 aus der Evangelischen Kirche aus und werden Mitglied der freien Deutschkatholischen Gemeinde. Die Deutschkatholiken sind eine religiös-politische Bewegung, die ihre Wurzeln in den 1840er-Jahren hat. Die Freireligiösen sind in den Industrieregionen in Schlesien, Sachsen und im Rheinland populär. Sie bieten Lebenshilfe und wenden sich gegen Dogmatismus und die Repressalien der konservativen Fürstentümer. Die freireligiösen Gemeinden lehnen das kirchliche Lehramt und päpstliche Primat, Heiligenverehrung, Beichte, Zölibat sowie traditionelle Liturgieformen ab und erkennen nur Taufe und Abendmahl als Sakramente an. Sie fordern soziale Verbesserungen, eine Stärkung des öffentlichen Schulwesens, Armenärzte, Armenkassen, Turn- und Badeanstalten, was sie vor allem bei Arbeitern und der unteren Mittelschicht populär macht. Der Staat macht den Kirchenaustritt der Familie nicht leicht. Vater Ernst muss dem Pfarrer 2 Mark und dem Amtsgericht 8,75 Mark zahlen. Dazu kommen 15 Stunden Lohnausfall. Für den einfachen Schneider eine beträchtliche finanzielle Einbuße.8 Mit sechs Jahren kommt der Junge 1899 in die Volksschule. Er besucht die fünfte Bezirksschule in der Elsässer Straße. Er ist eifrig und hat Interesse, herausragend sind seine Noten nicht.9 Sobald er lesen kann, beginnt er, von seinen Eltern ermutigt, sozialistische Literatur zu lesen. Als Walter sieben ist, zieht die Familie erneut um. Jetzt in eine noch billigere Wohnung in der Alexanderstraße. Der Anlass für den erneuten Umzug ist die Geburt von Bruder Erich. Ein Jahr später bringt Mutter Pauline in der neuen Wohnung Schwester Hildegard zur Welt. Vater Ernst liebt die Natur, kennt alle Bäume und Vögel. Sonntags wandert die Familie in die Natur des Leipziger Umlands. Bei Pausen in Wirtshäusern trinken die Eltern Kaffee, die Kinder bekommen Limonade. Der letzte Umzug liegt erst eineinhalb Jahre zurück, als die Familie erneut umzieht; die neue Wohnung liegt in der Kolonnadenstraße.10 Die zahlreichen Umzüge sind eine Unstetigkeit, die anhalten und prägen wird. Walter ist knapp zehn Jahre alt und verbringt seine Zeit am liebsten mit „Räuber und Gendarm“- oder „Trapper und Indianer“-Spielen.11

      Mit anderen Kindern aus der Nachbarschaft stromert er in der Gerberstraße, dem Flussbett der Parte, dem Tröndlinring an der Gewerbeausstellung, dem Fleischerplatz, vom Ranstätter Steinweg bis zur Poniatowskibrücke, der Parkanlage Rosental oder dem Naundörfchen, in dem das städtische Schwimmbad liegt. Im Winter laufen die Kinder Schlittschuh. Arm sind sie alle.

      Walter ist ein zurückhaltendes und stilles Kind, versteht sich allerdings zu wehren: „Mein Name ist nicht Ullrich, sondern Ulbricht!“,12 brüllt er eines Tages seinen Spielgenossen Carl an, einen dicken Jungen mit Brille und verkümmertem Arm, der ihn beim falschen Namen ruft. Man verträgt sich und man schlägt sich.

      Er würde lieber Fußball spielen, als Schularbeiten zu machen. Seine Mutter achtet aber darauf, dass er gut lernt und lässt ihn erst gehen, wenn er seine Hausaufgaben erledigt hat. Im Hause herrscht Ordnung. Wenn Walter, ohne seine Hausaufgaben zu machen, zum Spielplatz will, schließt sie die Wohnungstür ab. Bildung ist der Familie wichtig. Die Kinder arbeiten viel für die Schule und sind strebsam.

      Beide Eltern nehmen sich neben der Arbeit Zeit, um Schulhefte durchzusehen, sprechen regelmäßig mit den Lehrern der Kinder13 und erkundigen sich nach ihren Leistungen. Sie bemühen sich, die Kinder zu fördern. Trotz des kargen Einkommens lassen sie ihren Sohn Theater und Konzerte besuchen. Zu Hause lesen die Kinder Klassiker, wie Walters Lesekarte der Stadtbibliothek zeigt.

      Der Crimmitschauer Textilarbeiterstreik von August 1903 bis Januar 1904 erschüttert das Kaiserreich und prägt Walter.14 Crimmitschau im Landkreis Zwickau ist ein Zentrum der Textilindustrie. Mit zahlreichen Tuchfabriken, Spinnereien, Färbereien und Zwirnereien ist Crimmitschau als „Stadt der 100 Schornsteine“ bekannt. Gemessen an der Einwohnerzahl leben hier mehr Millionäre als irgendwo anders im Reich. Den Arbeitern geht es nicht gut: Ihre Arbeitszeit ist mit 11 Stunden länger als in anderen vergleichbaren Betrieben im Reich. Wenn der Absatz stockt, gibt es Entlassungen – eine Katastrophe für jede Familie. Mehrmals haben die Arbeiter erfolglos für bessere Arbeitsbedingungen gestreikt. Jetzt sind es vor allem die Arbeiterinnen, Frauen und Mütter, die sich für den Zehnstundentag einsetzen. „Eine Stunde für uns! Eine Stunde für unsere Familie! Eine Stunde fürs Leben!“, ist ihre Parole. Die angebotene halbe Stunde weniger Arbeitszeit reicht den Streikenden nicht. Immer mehr streiken, bis rund 8 000 Arbeiter im Ausstand stehen. Die Fabrikanten versuchen, mit Streikbrechern die Arbeit fortzusetzen, die sie deutschlandweit anwerben. Die Streikenden blockieren den Zutritt in die Fabriken. Insgesamt 21 Wochen kämpfen sie, unterstützt von Spenden aus dem In- und Ausland für den Zehnstundentag. Auch Walter sammelt in Leipzig mit seinen Eltern Spenden. Aus dem Ausstand ist ein nationales Symbol geworden, als die Gewerkschaft den Streik im Januar 1904 abrupt