Florian Heyden

Walter Ulbricht. Mein Urgroßvater


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stationiert. Fabrikbesitzer werben überall im Reich Streikbrecher an. Die Gewerkschaftsführer plädieren für ein Ende des Streiks und empfehlen, die Arbeit zu den alten Bedingungen aufzunehmen. 500 Streikende verlieren ihre Arbeit. Ihr Ziel haben sie nicht erreicht.

      In Leipzig gründen Sozialdemokraten im Sommer 1906 den Arbeiterjugend-Bildungsverein mit Sitz im Volkshaus. Die Jugendlichen verwalten sich allein.16 Ein Großteil der Mitglieder sind Lehrlinge und ungelernte Arbeiter. Dem leitenden Jugendvorstand stehen erwachsene Jugendbeiräte wie Ernst Ulbricht zur Seite. Sein Sohn verbringt jetzt den Großteil seiner freien Zeit hier, liest Goethe, Schiller und Marx. Als freireligiöser Sozialist stellt Ernst Ulbricht seine Kinder vom Religionsunterricht frei. Sie besuchen eine Klasse mit Populärwissenschaft, Goethe, Schiller und Heine.17 Das macht sie zu Außenseitern.18 „Der Ulbricht, mit dem hatten wir nichts zu tun. Mit dem durften wir uns nicht sehen lassen.“19 Die Geschwister leiden in der Schule unter dem Gespött ihrer Mitschüler als „Rote“20. Als Freireligiöser besuchen sie die Gemeindenachmittage.21 Hier ist Walter still und zurückhaltend. Andere Schüler bemerken ihn wenig. Er „fiel überhaupt nicht auf. Da er nur sehr wenig sagte, meinten wir, er sei dumm. Außerdem hatten wir keinen Kontakt zu ihm, weil er von einer anderen Schule kam und weil er aus einer Gegend stammte, mit deren Bewohnern man […] nichts zu tun haben mochte.“22 Anders als seine anderen Lehrer ist Walters Hauptlehrer fortschrittlich. Er macht zweimal im Jahr mit den Schülern Wanderungen. Das Fahrgeld bezahlt die Schule, Essen und Übernachtung der Lehrer.23

      Er weckt Walters Interesse für Naturwissenschaft und regt ihn an Darwin, Bölsche und Haeckel zu lesen. Er schlägt Walters Eltern vor, ihren Jungen auf eine Hochschule zu schicken. Für die Studiengebühren fehlt allerdings das Geld. Um Berufe kennenzulernen, die ihm offenstehen, arbeitet Walter neben der Schule in einer Handwerkerschule. Die Familie nimmt die Berufswahl ernst. Er probiert Schlosser- und Klempnerei, Kunstschnitzerei, Tischlerei und Buchbinderei. Als die Eltern meinen, er solle Tischler werden, stimmt er zu. Am Palmsonntag, 24. März, markiert die Jugendweihe den Übergang ins Erwachsenenalter. Prediger Kippenberger gibt ihm vor versammelter Gemeinde zur Konfirmation seinen Denkspruch: „Stets handle fest nach männlichen Gesetzen, die Du Dir schreibst; und eines zu verletzen, sei Hochverrat an der Vernunft. Trägst du Zufriedenheit in deiner Seele, so hast du Glück für dich genug, so quäle dich nicht um Beifall einer Zunft.“24

      Die Jugendweihe markiert das Ende der achtjährigen Volksschulzeit, damit beginnt der 14-Jährige am 23. Mai 1908 standesgemäß seine vierjährige Tischlerlehre bei Hallitzschke & Volkmer in der Leipziger Dorotheenstraße.25 Die Tischlerei des Meisters Ernst Werners ist eine respektable Adresse, in der vornehme Kunden arbeiten lassen. Die Arbeit beginnt morgens um 6 Uhr und endet abends um 19 Uhr. Der Lohn beträgt die ersten drei Jahre magere 3 Mark, im Abschlussjahr 4 Mark die Woche. Trotz des niedrigen Lohns zeigt sich der Junge als stolzer Sozialist: Als er eine Kommode an den griechischen Konsul liefert, lehnt er das angebotene Trinkgeld ab. Mit seinen Kollegen ist er „gesellig, verträglich und lebhaft als Lehrling wie als Schüler“26.

      Die Gewerkschaften erreichen in dieser Zeit ihre ersten großen Erfolge. Die Familie Ulbricht nutzt trotz der langen Arbeitszeiten jede freie Minute, um sich weiterzubilden und politisch zu engagieren. Walter tritt in den Arbeiterturnverein Eiche ein. Er ist beim Sport ehrgeizig. Er lebt in einer politisch aufgeladenen Atmosphäre, beruflich wie privat, und nimmt an seinem ersten Streik teil. Die Aussperrung verläuft friedlich, Streikposten sitzen auf Stühlen vor der Werkstatt und lassen niemanden hinein. Die Streikenden rühren Streikbrechern Seife in den Leim, damit die fertigen Möbel später in Stücke gehen.27

      Wie man streikt, lernt er vom Vater. Ernst Ulbricht ist Gewerkschafter, Vorstandsmitglied der Schneidergewerkschaft und SPD-Vertrauensmann. Seit dessen Gründung vor zwei Jahren ist er Beirat des Jugendbildungsvereins Alt-Leipzig,28 dem sein Sohn im Oktober 1908 beitritt. Mit Knebelbart und breitem Kalabreser, kräftig-fröhlicher Stimme ist Ulbricht Senior bei den Jugendlichen beliebt.29 In den vier Räumen im Parterre und im Obergeschoss leben die Geschwister Ulbricht ein reges Vereins- und Parteileben. Auf Vortrags- und Spieleabenden singen und tanzen die Jungen und Mädchen mittwochs und donnerstags zusammen. Daneben tischlert Walter hier in seiner Freizeit mit anderen Lehrlingen ein Rednerpult, das er auf Diskussionsabenden benutzt.30 Neben Arbeit und Politik begeistert sich der Jungfunktionär in der Alberthalle für Musik und Malerei, trifft sich an Sonntagen mit Freunden zu Ausflügen ins Umland.

      Eine Zeitlang arbeitet er als Hilfsbibliothekar.31 Schwester Hildegard bringt anderen im Jugendheim Stenografie bei.32 Walter liest viel: klassische Literatur, Goethe, Schiller, Heine, Herwegh, Ibsen und Maxim Gorki, in Kursen studiert er die Arbeiterbewegung, Geschichte und Volkswirtschaft.33 Noch heute zeigen seine zerfledderten Reclam-Hefte und sein Leseausweis der Bücherhallen sein Interesse. Mehr als 30 Bücher über Luftschiffart, Wirtschafts-, Literatur- und Weltgeschichte, Balkan, Pädagogik, Renaissancemaler, antike Sagen leiht er aus. Ludwig Thomas Lausbubengeschichten stehen ebenso auf der Liste. Die Familie liest die Leipziger Volkszeitung und diskutiert über Artikel. Als Parteifunktionär nimmt Vater Ernst seinen ältesten Sohn illegal zu politischen Vorträgen der SPD mit. Da Jugendlichen der Besuch von politischen Versammlungen verboten ist, bringen ältere Genossen ihre Mitgliedsbücher vor den Saal, um die Eingangskontrolle der Polizei zu umgehen.34 Als Gewerkschaftsvorstand bekommt Ernst Ulbricht zu Hause Besuch von Kollegen, um Gewerkschaftsfragen zu diskutieren.

      Walter nimmt seine Gewerkschaftsarbeit ernst, verteilt heimlich in der Nachbarschaft SPD-Flugblätter. Damit die Polizei ihn nicht erwischt und verhaftet, beginnt er mit dem Verteilen in den oberen Stockwerken.35 Die Leipziger Partei nimmt ihn später für seine Arbeit in den inneren Funktionärskörper des Stadtteils Mitte des 12. Wahlkreises auf.36

      Als Walters Tischlerwerkstatt erneut streikt, schlagen die jungen Schreiner Streikbrecher mit Tischbeinen in die Flucht. Die soziale Lage heizt sich langsam auf. Im November kommt es in Leipzig zu Demonstrationen gegen das neue Dreiklassenwahlrecht. Die Wahlrechtsreform zementiert die politische Ungleichheit und teilt alle Wahlberechtigten nach ihrem Einkommen in drei Klassen ein. Die erste Klasse stellt mit vier Prozent aller Wähler ebenso viele Wahlmänner für den Reichstag wie die dritte Klasse mit 82 Prozent. Unter den 40 000 Teilnehmern ist auch die Arbeiterjugend. Flankiert von berittener Polizei ist es Walters erste große Demonstration.37 Trotz der Diskriminierung wird die SPD stärker.

      Im Juli 1909 zieht die Familie in die Alexanderstraße.38 Ein halbes Jahr später wird Walter Mitglied des Jugendausschusses der Arbeiterbildung und rückt in die Führung der Arbeiterjugend auf. Er tritt dem Holzarbeiterverband bei und beginnt als Gewerkschafter zu arbeiten. Im April 1911 bekommt er seine erste größere eigene Mission. Das Sekretariat der Arbeiterjugend schickt ihn mit zwei Genossen nach Zwenkau, südwestlich von Leipzig, um die jungen Arbeiter zu organisieren.39 Drei Wochen später beendet er seine Lehre. „Nachdem er das Tischlerhandwerk während vier Jahren […] bei dem Tischler-Meister Herrn E. Werner zu Leipzig gehörig erlernt hat, heute vor dem unterzeichneten Prüfungsausschusse die Gesellenprüfung mit dem Prädikat gut bestanden.“40

      Sein Gesellenstück ist eine Kücheneinheit. Der Tisch hat sich wacklig und gerichtet in der Familie erhalten, der Rest in Leipzig. Walter will ein guter Tischler sein, er ist dankbar: „Nicht nur der Meister, sondern auch die älteren Lehrlinge haben uns Lehrlingen geholfen, etwas Tüchtiges zu werden.“41 Mit dem Ende seiner Lehre verabschiedet sich Walter ab dem 5. Mai zusammen mit Otto Heyden nach altem Brauch zur Wanderschaft. Nachmittags sind Otto und Walter noch bei Alfred für eine einfache und kleine Abschiedsfeier, „wie es sich für […] Proletarier geziemte“. „Dann Abendbrot gegessen, Rucksack gepackt, noch ein bisschen […] geschlafen und […] es geht hinaus in die fremde Ferne.“ Walter Vater bringt die Jungen bis zum Dresdner Bahnhof.42 Über Riesa geht es zu zweit zunächst nach Dresden. Von hier geht es am 9. Mai weiter „über Riesa mit der Bahn nach Dresden. In Riesa imponiert die ‚Pferdeelektrische‘ ganz gewaltig“.

      In Dresden ist eine Herberge schnell gesucht, das Gepäck abgegeben, und hinaus ins Freie. Zunächst der Zwinger. Sehen tun die beiden nicht