Walter bleibt klar der KPD verschrieben. Persönlich verändert sich sein Leben aber stark. Am 7. Februar 1920 heiratet er seine hochschwangere Freundin Martha und geht nur eine Woche später wieder auf Reisen.116 Drei Monate nach der Hochzeit bringt Martha im Mai ihre gemeinsame Tochter Dora zur Welt. Dora ist ein kleines, kränkliches Kind, schreit nachts viel. Trotz aller Beschwernisse zeigt Walter sich, wo es geht, als fürsorglicher und zugewandter Vater. Aber gleichzeitig Funktionär und Vater zu sein, erschöpft Walter und strapaziert seine Ehe zutiefst.117
Mit der Ratifikation tritt der Versailler Vertrag in Kraft. Berlin ist verpflichtet, das Heer auf 100 000 Soldaten zu reduzieren und die Freikorps aufzulösen. 200 000 Freikorpssoldaten stehen vor der Entlassung. Putschgedanken frustrierter, von der Entlassung bedrohter Offiziere treffen jetzt mit rechtsextremen Umsturzplänen zusammen. In Leipzig ist die Polizei durch Informanten hinreichend über Walters Rolle bei der Verbreitung „aufrührerischer Flugblätter“ informiert. Der Untersuchungsrichter verfügt kaum drei Wochen nach seiner Hochzeit erneut einen Haftbefehl, den das Gericht erst im Herbst wieder aufhebt. Walter ist wieder vogelfrei, gerade als die unheilvolle politische Lage eskaliert.
Am 29. Februar 1920 weigert sich General von Lüttwitz, dem Befehl von Reichswehrminister Noske zu folgen, die Marinebrigade Ehrhardt und das Freikorps Loewenfeld aufzulösen. Zwei Wochen später besetzt er mit der Marinebrigade das Berliner Regierungsviertel und ernennt den ostpreußischen Generallandschaftsdirektor Kapp zum Reichskanzler. Die Reichswehr lehnt ein Vorgehen gegen die Putschisten ab. Minister, Reichskanzler und Reichspräsidenten fliehen aus Berlin. Noch am gleichen Tag rufen Reichsminister und SPD-Parteivorstand zum Generalstreik auf. Gewerkschaften und KPD schließen sich dem Aufruf an und legen das öffentliche Leben lahm. Die Armee besetzt auch Leipzig, die Stadt gleicht einem Heerlager. Soldaten und Arbeiterwehren prägen das Straßenbild. Die Putschisten gehen brutal gegen mutmaßliche Linke und Revolutionäre vor. Als Antwort errichten die Arbeiter Barrikaden und Straßensperren. Walter lebt konspirativ als Teil der fünfköpfigen KPD-Kampfleitung und als Lokalredakteur für die Zeitung „Klassenkampf“. Auch die Leipziger USPD ruft zum Widerstand gegen den Putsch auf. Als sich Demonstranten dem Augustusplatz nähern, werden sie von der Reichswehr und dem Freiwilligenregiment von den Dächern aus beschossen. Allein hier sterben 40 Demonstranten, über 100 werden verletzt. Aber der Generalstreik wirkt. Sämtliche Vororte sind in den Händen der Arbeiter, das Militär verschanzt sich in der Innenstadt. Die Reichswehr muss einem Waffenstillstand zustimmen. Aber nicht alle halten sich daran. Während die Toten der Kämpfe auf dem Südfriedhof beerdigt werden, stürmen Putschisten das Volkshaus, das sie für das „Hauptquartier der Spartakisten“ halten, und schießen es in Brand. Mit dem Scheitern des Putschs brechen SPD und USPD den Generalstreik ab. Die Kommunisten kämpfen alleine weiter, die Polizei fahndet wieder gegen Walter als Rädelsführer. Schließlich wird er verhaftet, als er nach Feierabend in das von der Polizei besetzte, illegale KPD–Bezirksbüro kommt. Er bleibt zwei Wochen im Gefängnis. Da aber niemand belastende Aussagen macht, muss die Polizei ihn wieder freilassen. Kaum einen Tag später kommt die Polizei zurück, um ihn erneut zu verhaften. Walter ist inzwischen abgetaucht, hat sein Versteck gewechselt und seine Arbeit gekündigt. Der Zugriff bleibt erfolglos.
Die KPD bleibt eine Splitterpartei mit kaum 75 000 Mitgliedern,118 aber für jemanden mit Walters organisatorischen Fähigkeiten und Energie bieten sich Möglichkeiten. Zur Reichstagswahl im Juni 1920 kandidiert er für die Partei im Bezirk Mitteldeutschland.119 Die Wahlen verlaufen bei starker Beteiligung ruhig und bringen 21,7 % für die SPD und 18,8 % für die USPD. Die KPD kommt auf 2,1 % und erhält zwei Sitze, die Zetkin und Levi bekommen. Trotz ihres Erfolgs zerbricht die USPD kaum vier Monate später nach monatelangen Flügelkämpfen. Bei den Gesprächen in Halle über eine Vereinigung des linken Parteiflügels mit der KPD ist Walter Teil der KPD-Delegation. Nach dem Zusammenschluss zur Vereinigten Kommunistischen Partei wählt die Partei Walter in die Bezirksleitung Mitteldeutschlands. Daneben wird er Lokalredakteur beim „Roten Kurier“ für Westsachsen. Nachdem Sachsens Volkskammer eine neue Verfassung annimmt, finden die ersten Landtagswahlen statt. Die Kommunisten erhalten 5,7 % der Stimmen. Walter ist zwar einer von 15 Kandidaten, erhält aber keines der sechs Parteimandate.120 Trotzdem hat er Grund zu feiern. Im Dezember unterzeichnet er mit Martha den Mietvertrag für ihre erste eigene bescheidene Wohnung. Für 825 Mark Miete im Jahr121 haben die beiden in der Geißlerstraße zu Sellerhausen zwei Zimmer nebst Inventar mit „Berliner“ Kachelofen, Besenkammer und Kellerabteil. Die Möbel zimmert Walter als Tischler selber.122 Zwei einfache Metallbetten komplettieren die Einrichtung.
1921 beginnt vielversprechend. Mit der Vereinigung mit der USPD hat sich die Mitgliederzahl der KPD fast verzehnfacht. Bei den Wahlen zum Preußischen Landtag wird die Partei in ihren Hochburgen stärkste Kraft. Die Überschätzung der eigenen Kräfte scheint dabei vielen zu Kopf zu steigen. Auch die gerade gegründete Komintern, der weltweite Zusammenschluss kommunistischer Parteien, entsendet eine Delegation, um die Zentrale von einem Aufstand zum Sturz der Regierung zu überzeugen.123
Frustriert meint Parteichef Levi: „Die Frucht eines zweijährigen Kampfes und einer zweijährigen Arbeit [wird] zerstört.“124 Er tritt zurück. Seine Stelle übernimmt die linke Opposition um Brandler und Stoecker. Der Komintern-Gesandte Radek verlangt, Russland „durch Bewegungen im Westen [zu entlasten], aus diesem Grund müsse die deutsche Partei sofort in Aktion treten […], um die Regierung zu stürzen“125. In Sachsen ist die Situation besonders angespannt. Nach dem Kapp-Putsch befinden sich noch viele Waffen in den Händen der Arbeiter. Der SPD-Oberpräsident befürchtetet einen kommunistischen Putsch und kündigt an, die Polizei in das mitteldeutsche Industriegebiet zu schicken. Obwohl von Lenin als „linksradikale Spielerei“ abgelehnt, tritt jetzt in der Zentrale die Offensivtheorie an die Stelle der gerade zaghaft erprobten Einheitsfront. Auch Preußens Innenminister Severing meint, dass ein Aufstand bevorsteht. „Die Waffe bringt die Entscheidung. – Und die Gegenrevolution will die Waffen nicht aus der Hand geben. […] Ein jeder Arbeiter pfeift auf das Gesetz und erwirbt sich eine Waffe, wo er sie findet.“126 Ende März beginnen Kämpfe mit der Polizei, Reichspräsident Ebert verhängt am nächsten Tag den Ausnahmezustand. Walter hilft bei den Vorbereitungen in Leipzig und ist auf einer Barrikade Teil der Kämpfe.127 Es hilft nichts. Schon nach wenigen Tagen schlagen Truppen den Aufstand blutig nieder, von 200 000 Aufständischen kommen etwa 180 ums Leben. Schon am gleichen Tag beginnen die Festnahmen und Walter muss wieder in den Untergrund.
Die Arbeit der Partei ist chaotisch. „Alle Mitglieder erledigen während der Sitzungen Arbeit, blättern Provinzpresse durch. […] Eine Tagesordnung wird von niemandem vorbereitet, so dass oft Fragen entstehen und man zu diesen übergeht, ohne die alten zu klären. Manchmal geht dies so weit, dass man die ursprüngliche Frage vergisst. […] Personen, die auf verantwortlichem Posten arbeiten könnten, sind in der Partei nicht vorhanden […].
Es gibt niemanden […] der die politische Führung übernehmen könnte […]. Auch einen Menschen mit starkem Willen und organisatorischem Talent, der den Organisationsapparat in seine Hände nehmen könnte, gibt es nicht.“128 Die Märzaktion ist für die Partei verheerend. Die Organisation ist von der Polizei zerschlagen, die Zahl der Mitglieder von 450 000 auf 150 000 gesunken. Für ein Talent wie Walter ist die Katastrophe aber auch eine Chance. Gleich nach dem Ende der Kämpfe beginnt er seine erste bezahlte Stelle in der Partei, offiziell bei der Leipziger UNS-Produktionsgenossenschaft.129
In Wirklichkeit reist er nach Erfurt, um die am Boden liegende KPD Groß-Thüringen zu retten. Die Richtungskämpfe haben den Parteibezirk aufgerieben. Walter soll in Jena eine neue Leitung schaffen. Die Genossen nehmen ihn widerwillig an, meist muss er sich auf neue Mitarbeiter aus Erfurt stützen. Walter kümmert sich um alles und jeden. Seine Mitarbeiter bemerken seinen Fleiß und Organisationstalent, aber auch sein kühles Äußeres. Er lernt Emotionen mehr und mehr hinter einer Maske, gedeckt durch das Lächeln der Ulbrichts, zu verbergen. Er entwickelt Ausdauer im Zuhören, hält sich zurück und ist im entscheidenden Moment am besten informiert.
Der Konflikt zwischen Rechten und Linken schwelt weiter. Das wird auch auf der Kommunistischen Jugendinternationale (KJI) in Jena deutlich, zu der Walters spätere Frau Rosa Michel angereist ist. Die KJI folgt einer ultralinken