Thomas Rauscher

Internationales Privatrecht


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deutschen materiellen Rechts auf. Anknüpfungsnormen des IPR sind auf der Tatbestandsseite nach Systembegriffen geordnet, die sich häufig an der Systematik des eigenen materiellen Rechts orientieren.

      Diese Bindung ist traditionell so stark, dass trotz der bedeutenden rechtsvergleichenden Vorarbeiten, die heute regelmäßig ein Reformvorhaben begleiten, häufig für Rechtsinstitute, die im materiellen Recht beseitigt werden, sogleich auch im IPR die entsprechende Kollisionsnorm entfernt wird. ZB beseitigte das KindRG 1998 zusammen mit der materiellen Aufgabe der Unterscheidung von ehelichen und nichtehelichen Kindern auch das Legitimationsstatut, obwohl damals noch viele Rechtsordnungen eine Legitimation kannten. In Europa sind Statusunterschiede inzwischen selten (Rn 458, 1020).

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      2. Dennoch sind das deutsche IPR und das deutsche materielle Recht nicht deckungsgleich. Zum Teil wird für einzelne Fragen, die im materiellen Recht einer Systemgruppe zugeordnet sind, im IPR eine eigenständige Anknüpfung gewählt.

      Das internationale Namensrecht ist in Art. 10 umfassend und eigenständig geregelt, während das materielle Recht den Ehenamen als allgemeine Ehewirkung (§ 1355 BGB), den Kindesnamen als Frage des Rechtsverhältnisses von Eltern und Kind behandelt (§§ 1616-1618 BGB).

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      3. In diesem Fall ist die Qualifikation unproblematisch: Das IPR bestimmt die maßgebliche Kollisionsnorm; wenn es für Teilfragen eines materiellen Systembegriffs spezielle Kollisionsregeln enthält, so sind diese anzuwenden.

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      1. Das zweite Qualifikationsproblem tritt ebenfalls zwischen den Systembegriffen des deutschen materiellen Rechts und des deutschen IPR auf: Eine Bestimmung ist im materiellen Recht tatbestandlich einem Systembegriff zugeordnet, berührt jedoch in der Rechtsfolge einen anderen Systembegriff. Im IPR ist deshalb zu klären, welchem der beiden Systembegriffe die Bestimmung angehört.

      § 1371 Abs. 1 BGB regelt den Zugewinnausgleich bei Beendigung der Ehe durch Tod (ehegüterrechtlicher Tatbestand) durch Erhöhung des gesetzlichen Erbteils des überlebenden Ehegatten um ein Viertel (erbrechtliche Rechtsfolge).

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      2. Im materiellen Recht kann die Frage unbeantwortet bleiben, zu welchem Systembegriff das Rechtsinstitut materiell gehört, da unabhängig von dieser Einordnung die Regelung in Inlandsfällen jedenfalls Anwendung findet. Im IPR wird die Qualifikation des Rechtsinstituts entscheidungserheblich, weil die verschiedenen Systembegriffe unabhängigen Verweisungen in unterschiedliche Rechtsordnungen unterliegen und deshalb von der Qualifikation die Anwendung der Norm abhängt.

      Haben seit der Eheschließung in Deutschland lebende Ehegatten verschiedene ausländische Staatsangehörigkeiten, so ist Ehegüterstatut deutsches Recht (Art. 14 Abs. 1 Nr 2), Erbstatut aber – vorbehaltlich Rückverweisung – das jeweilige Heimatrecht (Art. 25 Abs. 1 aF, Art. 22 Abs. 1 EU-ErbVO) oder Aufenthaltsrecht (Art. 21 Abs. 1 EU-ErbVO). § 1371 Abs. 1 BGB findet dann bei Tod eines Ehegatten nur Anwendung, wenn es sich um eine ehegüterrechtliche Norm handelt, weil nur das Ehegüterstatut deutsches Recht ist.

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      3. Diese Frage löst sich nicht von selbst; die beiden Kollisionsnormen stehen nicht in einem Verhältnis der Spezialität; keine der Normen lässt erkennen, ob sie das im materiellen Recht ambivalente Rechtsinstitut umfasst. Klar ist jedoch auch bei diesem Problem, dass es intern im deutschen Recht zu lösen ist.

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      1. Das dritte Qualifikationsproblem tritt erst in Erscheinung, wenn die Verweisung des deutschen IPR in eine fremde Rechtsordnung geführt hat; es wird verursacht durch Systemunterschiede zwischen dem deutschen Recht und dem fremden materiellen Recht: Ausgehend von der Einordnung des Sachverhalts – meist in Gestalt einer Rechtsfrage – in die deutschen Systembegriffe trifft man auf eine Rechtsordnung, die unter diesem Systembegriff keine Lösung des Problems bereithält, weil sie das Problem einem anderen Systembegriff zuordnet.

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      Viel erörterte Beispiele sind die Qualifikation der Verjährung und des Erbrechts des Staates. Aus deutscher Sicht ist Verjährung ein Institut des materiellen Rechts und unterliegt daher dem Statut, das die jeweilige Forderung beherrscht (Vertragsstatut, Erbstatut etc). Im Common Law-Rechtskreis wird Verjährung als Klageverjährung verstanden und daher prozessrechtlich qualifiziert. Entscheidet ein deutsches Gericht (Prozessrecht unterliegt der lex fori, dem Recht des Gerichts) über eine englischem Recht unterstehende Forderung, so fehlt es sowohl im Prozessstatut als auch im Forderungsstatut an einer Verjährungsregel; ist die Forderung dann unverjährbar?

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      Das Erbrecht des Staates bei Fehlen privater Erben ist aus deutscher Sicht ein echtes Erbrecht, wird also erbrechtlich qualifiziert. Andere Rechtsordnungen sehen ein – aus ordnungspolitischen Gründen bestehendes – sachenrechtliches Aneignungsrecht des Staates an im Land befindlichen erbenlosen Nachlässen vor. Verstirbt ein Ausländer mit einem solchen Erbstatut in Deutschland ohne private Erben, so fehlt es im Erbstatut an einer Regelung. Das Sachenrechtsstatut (deutsches Recht für hier belegenen Nachlass) enthält ebenfalls keine Bestimmung. Kann sich jedermann den erbenlosen Nachlass nehmen? Welcher Staat kann den erbenlosen Nachlass eines Deutschen beanspruchen, den nach deutschem Erbstatut ein deutscher Fiskus erbt (§ 1936 BGB), wenn er nach dem Recht des Belegenheitsstaates dort einem Aneignungsrecht unterliegt?

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      Nicht hierhin gehört die Abgrenzung von erbrechtlicher und ehegüterrechtlicher Beteiligung des überlebenden Ehegatten am Nachlass. Zwar wird die Nachlassbeteiligung in manchen Rechtsordnungen nur im Ehegüterrecht vorgenommen (im französischen Recht bei Zusammentreffen mit Kindern nur Nießbrauch für den Ehegatten), in anderen nur im Erbrecht (zB, inzwischen mit Abweichungen, im traditionellen Common Law), in vielen Rechtsordnungen teils im Erbrecht, teils im Ehegüterrecht (zB §§ 1371 Abs. 1 und 1931 ff BGB). Dabei stimmt die Qualifikation als güterrechtlich oder erbrechtlich jedoch durchaus mit der deutschen Einordnung überein; es ist also nicht fraglich, ob eine Bestimmung erbrechtlicher oder güterrechtlicher Natur ist. Allerdings können sich ungerechte Lösungen ergeben, wenn das Erbstatut und das Güterstatut den Ehegatten nicht – oder jeweils zu reichlich – bedenkt. Dann muss durch Anpassung (Angleichung) (dazu Rn 562 ff) zusammengefügt werden, was nicht aufeinander abgestimmt ist.

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      2. Weil dieses Qualifikationsproblem neben der deutschen wenigstens eine ausländische Rechtsordnung berührt, sind hier die Lösungsansätze vielfältiger; es kommt in Betracht, die fremde Qualifikation zu berücksichtigen.

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      1. Das vierte Qualifikationsproblem lässt sich als das Spiegelbild des dritten Qualifikationsproblems verstehen: Geriet dort der deutsche Rechtsanwender auf der Suche nach der Lösung