Vielmehr wird die Mobilität mit der Entwicklung der Volkswirtschaften wahrscheinlich zunehmen, wenn die Chancengleichheit steigt, was normalerweise höhere öffentliche Investitionen und bessere politische Maßnahmen erfordert.«59 Mit anderen Worten: Ohne öffentliche Investitionen – eine immer wahrscheinlicher werdende Realität für Regierungen mit knappen Budgets – könnte sich die wirtschaftliche Mobilität in vielen Ländern eher verschlechtern als verbessern.
Was würde Simon Kuznets also zu all diesen Erkenntnissen sagen, von denen viele seiner eigenen Theorie zuwiderlaufen?
Wir brauchen nicht zu spekulieren. Laut seinem Kollegen am National Bureau of Economic Research, Robert Fogel, warnte Kuznets wiederholt, dass seine »Anspielungen auf fragmentarische Daten keine Beweise, sondern ›reine Vermutungen‹ seien«.60 Kuznets war sich mit anderen Worten nur allzu bewusst, dass seine Erkenntnisse in den 1950er-Jahren möglicherweise nur unter ganz bestimmten Umständen gültig waren, die sich in der Tat als das goldene Zeitalter des Kapitalismus herausstellten. Fogel wies auch darauf hin, dass Kuznets schon damals »Faktoren fand, die im Laufe des Wachstums auftraten und einen Druck erzeugten, der entweder zu mehr oder zu weniger Ungleichheit führte«.
Branko Milanovic, ein früherer leitender Ökonom bei der Weltbank, hat kürzlich versucht, angesichts dieser Erkenntnisse eine neue Kuznets-Kurve zu erstellen. Kuznets verwies vor allem auf die Technologie als einen Faktor, der sich positiv oder negativ auf die Ungleichheit auswirken kann. Milanovic leitete daraus eine Ungleichheitskurve ab, die angesichts der Entwicklung, die wir in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, viel vollständiger erscheint. Er nennt sie die Kuznets-Welle, und sie zeigt, dass die Ungleichheit schwankt, wenn Wellen des technischen Fortschritts und politische Maßnahmen darauf einwirken (siehe Abbildung 2.5 unten).
Abbildung 2.5: Erwartetes Muster der Veränderungen der Ungleichheit im Verhältnis zum Pro-Kopf-Einkommen, basierend auf dem Stand der technologischen Revolution
Quelle: Nachgezeichnet aus Piketty, Saez, and Zucman (2018), World Inequality Report 2018.
In dieser Grafik entspricht die erste technologische Revolution von Milanovic in etwa den ersten beiden industriellen Revolutionen, in denen die Eisenbahn und die Dampfkraft bzw. der Verbrennungsmotor und die Elektrizität zur Anwendung kamen. Die zweite technologische Revolution entspricht in etwa der dritten und vierten industriellen Revolution, die uns unter anderem den Computer und die künstliche Intelligenz brachten. Sein Ansatz ist klar: Technologie hat die Tendenz, Ungleichheit zu erhöhen, aber wenn wir uns an sie anpassen und Maßnahmen ergreifen, um mit der von ihr geschaffenen Ungleichheit umzugehen, können wir später die Ungleichheit reduzieren. Wir werden auf diesen Gedanken in Teil II des Buches zurückkommen.
Doch trotz der frühen Warnungen von Kuznets und der neueren Arbeiten von Milanovic setzten die politischen Entscheidungsträger auf der ganzen Welt weiterhin eine Politik um, die das Spitzenwachstum gegenüber der inklusiven Entwicklung und den schnellen Einsatz von Technologien gegenüber einer überlegten technologischen Steuerung favorisierte. Das war ein Fehler, denn die aktuellen Zeiten der rasanten technologischen Entwicklung tendieren naturgemäß dazu, die Ungleichheit zu erhöhen. Umso wichtiger ist es für die Politik geworden, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, um diesen Trend zu verlangsamen oder zu stoppen. Dass wir dies nicht getan haben, markiert den zweiten Kuznets-Fluch und bedeutet, dass viele Menschen auf der Welt einen sehr hohen Preis für den technologischen Fortschritt zahlen, den wir in letzter Zeit gemacht haben.
Der dritte Kuznets-Fluch: Die Umwelt
Es gibt einen dritten und letzten Kuznets-Fluch, und der hat mit der Umwelt zu tun. Als die Kuznets-Kurve in den 1960er- und 1970er-Jahren an Bedeutung gewann, fingen einige Leute an, sich Sorgen über die externen Auswirkungen des hohen Wirtschaftswachstums im Westen zu machen: eine zunehmende Umweltverschmutzung, Umweltzerstörung und die Erschöpfung der Ressourcen. Angesichts des sich im Westen durchsetzenden Konsumdenkens und des schnellen globalen Bevölkerungswachstums ist die Frage berechtigt, welchen Tribut unser sozioökonomisches System für unser globales Gemeinwesen forderte. Es war das Zeitalter der Autos und Fabriken, die eine dicke Rauchschicht über die Städte legten, der Entdeckung eines immer größer werdenden Lochs in der schützenden Ozonschicht um die Erde, der Inbetriebnahme von Atomkraftwerken mit dem daraus resultierenden Atommüll und der weit verbreiteten Verwendung von Kunststoffen und anderen schädlichen Materialien wie Asbest im Baugewerbe.
Ähnlich wie bei Kuznets’ vorübergehender Beobachtung der Ungleichheit dachten einige Ökonomen jedoch, dass es keinen allzu großen Grund zur Sorge gäbe: Kaum hatten sie entdeckt, dass die Umweltverschmutzung zunahm, gab es hoffnungsvolle Anzeichen, dass auch sie mit der Zeit wieder zurückgehen würde. In der Tat wurden die Produktionsmethoden immer ausgefeilter, sauberer und ressourcenschonender. Auf einer Pro-Produkt-Basis schien die Umweltbelastung einer Umwelt-Kuznets-Kurve zu folgen. Noch ein paar Jahre oder Jahrzehnte, so der Gedanke, und dieses Problem würde sich, wie die Ungleichheit zuvor, von selbst lösen. Leider hat sich dies nicht bewahrheitet.
Zunehmende Umweltzerstörung
Die letzte Realität, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, und vielleicht die verheerendste, ist die fortgesetzte und zunehmende Zerstörung der Umwelt, die durch unser Wirtschaftssystem und die lebensbedrohlichen Risiken verursacht wird, die durch die globale Erwärmung, extreme Wetterereignisse und die fortgesetzte Überproduktion von Abfall und Umweltverschmutzung entstehen.
Während die meisten Berichte über die Umwelt heute auf die globale Erwärmung abzielen, ist dies nur ein Teil eines viel größeren Problems. Das Wirtschaftssystem, das wir geschaffen haben, ist absolut nicht nachhaltig, ungeachtet der hoffnungsvollen Anzeichen in den ökologischen Kuznets-Kurven. Das Weltwirtschaftsforum machte erstmals 1973 auf dieses sich anbahnende Problem aufmerksam. Damals hielt Aurelio Peccei, der Präsident des Club of Rome, eines Think Tanks, in Davos eine Rede über seine berühmte Studie zum Thema »Die Grenzen des Wachstums«. Die Veröffentlichung dieser Studie ein Jahr zuvor hatte »für Aufsehen gesorgt, weil sie die Nachhaltigkeit des globalen Wirtschaftswachstums in Frage stellte«. Die Autoren, die »mehrere Szenarien für die Weltwirtschaft untersucht« hatten, skizzierten in Davos »die Entscheidungen, die die Gesellschaft treffen muss, um wirtschaftliche Entwicklung und Umweltauflagen in Einklang zu bringen«.61
Sie warnten davor, dass es bei dem derzeitigen Wachstumskurs in den nächsten Jahrzehnten zu einer »plötzlichen und ernsthaften Verknappung« von Ackerflächen kommen würde.62 Sie warnten davor, dass es angesichts des begrenzten Angebots an Süßwasser auf der Erde mit steigender Nachfrage zu einem Wettstreit und Konflikten kommen würde, wer Zugang zu diesem Wasser erhalte.63 Und sie warnten davor, dass viele natürliche Ressourcen, wie Öl und Gas, übermäßig genutzt würden und zu einer exponentiellen Umweltverschmutzung führten.64
Aber ihre Warnungen waren vergeblich. Die schlimmsten der vom Club of Rome entworfenen Szenarien sind nicht eingetreten, sodass ein Großteil der Botschaft in Vergessenheit geriet. Nach einer Flaute in den 1970er-Jahren hat die Wirtschaftsproduktion seither fast jedes Jahr ein Rekordniveau erreicht und einen immer größeren ökologischen