Группа авторов

Mord in Switzerland


Скачать книгу

       WIE-EIN-MENSCH

      MILENA MOSER

       Vancouver Island, heute

      «Das darf doch nicht wahr sein! Der Idiot hat mich umgebracht!» Amanda liess die Zeitung sinken. Sie war über eine Woche alt. Die Meldung stand auf der Aufschlagseite des Lokalteils: «Fatales Ehedrama in Aarauer Kunstszene».

       Aarau, vor über einer Woche

      «Was meinst du, was die Häuser hier kosten?» Markovic schaute aus dem Fenster. Das Villenviertel lag im Dunkeln. Gisiger antwortete nicht. Er versuchte, auf dem Bildschirm des neu installierten Navigationssystems die Strasse zu finden, aus der der Notruf gekommen war.

      «Meine Frau ist tot!»

      Meine leider nicht, hatte Gisiger gedacht, sich aber sofort für diesen Gedanken geschämt. Wer dachte so etwas. Und noch dazu ein Polizist! Gisiger fand es in letzter Zeit immer schwieriger, seine Gedanken zu kontrollieren.

      «Ich glaub, ich weiss, wo es ist», sagte Markovic jetzt. «Ich geh hier oben im Wald immer joggen.»

      Die Strasse endete in einem Kehrplatz. Gisiger wendete den Wagen und fuhr langsam zurück. Joggen könnte helfen, dachte er. Den Kopf leeren beim Laufen. Manche schwören ja darauf.

      «Landhausweg, wenn das kein Euphemismus ist», sagte Markovic, der jeden Tag ein neues Wort lernte. «Protzvillenweg wäre passender!»

      Gisiger war nicht sicher, ob «Euphemismus» das richtige Wort dafür war. Doch er wusste auch kein besseres. Und als die Strasse nach der nächsten scharfen Kurve wieder im Nichts endete, fiel ihm dazu nur «Scheisse!» ein.

      «Fahr nochmal zurück, die Strasse teilt sich da vorne.» Markovic hatte es irgendwie geschafft, das Display des Navigationssystems zu vergrössern, und fuhr mit dem Finger dem Strassenverlauf nach.

      «Scheisse», sagte Gisiger noch einmal.

      «Kein Stress. Die Frau ist tot, der Mann läuft nicht davon. Da vorne links, und dann zum Waldrand hoch.»

      Ein -ic bei der Kantonspolizei, dachte Gisiger. Das hätte es früher auch nicht gegeben. Wieder ein Gedanke, der nicht zu ihm passte. Gisiger hielt sich für grosszügig, für tolerant. Doch in den letzten Jahren war er bitter geworden. Und er wusste nicht einmal warum.

      Markovic war ausserdem der grösste Bünzli, den Gisiger je kennengelernt hatte, schweizerischer als jeder Schweizer. Fleissig, pünktlich, zuverlässig. Dauernd gab er mit seinem Fünfjahresplan an: Beförderung, Heirat, Hausbau, Kinder, in dieser Reihenfolge. Dass man sein Leben planen könnte, wäre Gisiger nie in den Sinn gekommen. Doch er zweifelte nicht daran, dass Markovic seine selbstgesteckten Ziele erreichen würde.

      Gisiger war das fremd. Er war eher zufällig zur Polizei gekommen. Eines frühen Morgens nach dem Ausgang war er mit seinen Kollegen vor einem Plakat stehengeblieben, auf dem die Kantonspolizei für Anwärter warb. Die anderen hatten gegrölt: «Hey, Gisi, das wär doch was für dich!» Sie hatten ihn damals schon «Schmieri» genannt, Schmierlappen, Polizist. Er war immer der, der die letzte Runde ablehnte, zum Aufbruch drängte, der die anderen ermahnte, ruhig zu sein, sie daran erinnerte, dass die Nachbarn schon schliefen. Er hatte mit ihnen mitgelacht, aber ein paar Tage später hatte er sich zum nächsten Ausbildungsgang angemeldet. Die Polizeiarbeit gefiel ihm besser, als er erwartet hätte. Sie entsprach seinem Bewusstsein, Teil eines grösseren Ganzen zu sein, Verantwortung zu tragen. Das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun … Wann hatte er das verloren?

      «Hier ist es.» Markovic stieg aus und drückte einen in der Mauer versteckten Knopf. Ein Tor öffnete sich nach innen, es sah aus, als würde ein Efeuvorhang aufgezogen. Dornröschen, dachte Gisiger. Vielleicht ist die Frau gar nicht tot, vielleicht schläft sie nur einen hundertjährigen Schlaf.

      Hundert Jahre schlafen! Das wäre Gisigers Traum. Der einzige, der ihm noch geblieben war. Beförderung? Hausbau? Kinder? Allein die Vorstellung machte ihn müde. Noch müder, als er schon war. Morgens, wenn der Wecker läutete, wünschte er sich, der Tag wäre schon vorüber und er könnte wieder ins Bett gehen.

      Letzten Monat hatte er eine Informationsveranstaltung besucht: Burn-out im öffentlichen Dienst. Die Teilnahme war vorgeschrieben, sonst wäre wohl niemand hingegangen. In der Kaffeepause hatten sie noch darüber gewitzelt, doch am Ende der Veranstaltung waren alle Flyer weg gewesen. Gisiger hatte den letzten eingesteckt. Auf der Rückseite stand die Nummer des internen Beratungsdienstes. Er hatte noch nicht angerufen.

      «Du bist stehen geblieben», sagte Helen, seine Frau. «Du hast dich aufgegeben.»

      Gisiger liess den Wagen die kurze, geschwungene Einfahrt hinaufrollen und hielt dann vor dem Haus. In der offenen Türe stand, wie in einem Bilderrahmen, von hinten beleuchtet, die Arme ausgebreitet, der Hausherr.

      «Was wetten wir, dass er es war? Hundert Franken?»

      Markovic streckte die flache Hand aus. Gisiger zögerte: «Du schaust zu viel fern.»

      «Es ist doch immer dasselbe: Erst töten sie ihre Frauen, dann melden sie sie vermisst, dann finden sie sie.»

      «Immer dasselbe, hm? Wie oft hatten wir so einen Fall schon?» Die meisten Tötungsdelikte, die sie bearbeiteten, waren, was Markovic «no-brainer» nannte: Fälle, über die man nicht nachdenken musste. Beziehungsdelikte, Messerstechereien, eine Schlägerei mit tödlichem Ausgang – Markovic hatte recht, der Täter war fast immer ein Mann.

      «Ich hab ihn gegoogelt», sagte Markovic. «Ein typischer Loser. Erfolgloser Künstler, der von seiner Frau lebt. So was geht nie lange gut. Es ist gegen die Natur.»

      «Soso, gegen die Natur!» Gisiger hatte tatsächlich einmal eine Ausstellung von Jonas Murbach besucht. Video-Installationen. Sie hatten ihn nicht beeindruckt. Vielleicht hatte er sie auch einfach nicht verstanden. Grundsätzlich mochte Gisiger Kunst, die er nicht gleich verstand. Die ihn irritierte, tagelang verfolgte, über die er nachdenken musste. Das war seiner Meinung nach die Aufgabe von Kunst. Aber diese Filmchen hatten ihn nur gelangweilt. Gisiger erinnerte sich an die Kritik der Ausstellung, sie war mit süffisanten Hinweisen auf die Position der Frau des Künstlers gespickt gewesen. Amanda Murbach, die Tote, war eine der reichsten Frauen im Kanton. Erbin und Verwalterin einer grossen Kunstsammlung, Gönnerin des Kunstvereins, Sammlerin, Mäzenin. Keine einfache Konstellation, dachte Gisiger. Wobei, einen typischen Loser hatte ihn Helen neulich auch genannt. Er habe keine Visionen. Keinen Ehrgeiz. Genau das hatte ihr früher an ihm gefallen. «Ein Mann, der sich nicht ständig beweisen muss, ist sexy», hatte sie gesagt. Heute wünschte sie offenbar, er hätte auch einen Fünfjahresplan. Gisiger hatte Markovics Verlobte kennengelernt, eine ehemalige Miss-Schweiz-Kandidatin mit sehr weissen Zähnen. Sie strahlte dieselbe unerschütterliche, beinahe arrogante Zuversicht aus wie Markovic.

      Wartet nur, hatte Gisiger gedacht. Wartet nur, ihr kommt auch noch auf die Welt!

      Seit wann dachte er so etwas?

      «Da sind Sie ja! Endlich!»

      Murbachs Hemd stand offen, sein Haar war wirr, er fuhr sich mit beiden Händen über den Kopf. Der Mann musste über vierzig sein, er sah gleichzeitig älter und jünger aus. Älter machten ihn seine Augensäcke, die tiefen Falten in der groben Gesichtshaut, die, so vermutete Gisiger, der Alkohol gezeichnet hatte. Jünger wirkte seine lässige Kleidung, sein drahtiger Körper. Unwillkürlich zog Gisiger den Bauch ein.

      «Mein Name ist Gisiger, Herr Murbach, das ist mein Kollege, Herr Markovic. Der Amtsarzt ist unterwegs, er sollte jeden Moment hier eintreffen.»

      «Ein Arzt? Haben Sie mir nicht zugehört? Es ist zu spät! Sie ist tot! Meine Frau ist tot!»

      «Was hab ich gesagt?», raunte Markovic.