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Mord in Switzerland


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Geste nachvollziehen konnte. Er würde richtig reagieren.

      Amanda stellte sich vor, wie er mit ihrer Stellvertreterin im Schlepptau nach Kanada reiste – er würde ihr selbstverständlich einen Sitzplatz reservieren und ihr einen Drink bestellen und sich über die Blicke der anderen Passagiere amüsieren. Vielleicht würde er einen Film drehen. Und er würde sie finden. Sie würden sich wieder finden.

      «Stattdessen hat er mich umgebracht.»

       Aarau, vor über einer Woche

      Es dämmerte schon, als Gisiger nach Hause kam. In der Wohnung war es still. Ohne das Licht einzuschalten, ging er in die Küche. Vor dem Fenster der Wald. Zwischen den Bäumen floss die Aare, er konnte sie nicht sehen, aber er wusste, dass sie da war. Er schaute zu, wie sich die letzten Reste der Nacht auflösten. Nebel hing in den Ästen der Bäume. Der Tag war noch nicht so weit.

      Das Licht ging an und verwandelte das vorhanglose Küchenfenster in einen wandbreiten Spiegel. Die verschlafene Landschaft verschwand, dafür sah er jetzt sich. Die hängenden Schultern, den Bauch, das Bier. Hinter ihm tauchte Helen auf. Sie trug eines seiner T-Shirts, ein weisses. Es reichte nicht ganz bis zu ihren Oberschenkeln. Gisiger zog automatisch seinen Bauch ein, aber er drehte sich nicht um.

      «Siehst du mich?», fragte er. «Helen, siehst du mich?»

       TOD BEI GAIS

      FELIX METTLER

      Schleierwolken bedeckten den Himmel, dennoch hatte Valerie eine dunkle Brille auf. Sie ging der Hauptstrasse entlang – in der rechten Hand fünf weisse Rosen. Mit der linken strich sie immer wieder ihr langes schwarzes Haar zur Seite, das ihr der Fahrtwind der vorbeibrausenden Autos ins Gesicht wehte. Das Ortsschild von Gais hatte sie vor wenigen Minuten passiert, als sie bei der gesuchten Stelle ankam. Diese war nicht zu übersehen: Zwei Laternenmasten waren geknickt, das Geländer der schmalen Brücke, die zu einem Bauernhof führte, teilweise weggerissen. Hinunterschauen zum Rotbach, wo sich der zerschellte Wagen möglicherweise immer noch befand, mochte Valerie nicht. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie ihren Strauss zu den bereits vorbeigebrachten Blumen legte. Auch zwei rote Kerzen standen da. Von wem sie wohl stammen?, fragte sich Valerie. Kennengelernt hatte sie Philipp vor zwei Jahren in Teufen bei einem morgendlichen Kaffee. Da keine Zeitung mehr verfügbar gewesen war, hatten sie sich eine geteilt. Das war der Beginn ihrer Freundschaft gewesen. Obwohl nie eine nähere Beziehung zwischen ihnen entstanden war, hatten sie vertrauensvoll auch über private Dinge gesprochen. Sie waren einfach füreinander dagewesen. Dass dies nun Vergangenheit war, wollte Valerie nicht wahrhaben.

      Einem Bericht der Appenzeller Zeitung war zu entnehmen, dass man rätselte, weshalb der Wagen von der Strasse abgekommen sei. Es hatten gute Verhältnisse geherrscht, und nach der Aussage des nachfolgenden Fahrers habe es an jener Stelle keinen entgegenkommenden Verkehr gegeben. Auch soll der Mann – Philipp Angerer – nicht gerast sein, seit Bühler sei der Abstand zwischen ihnen gleich geblieben. So wurde ein technischer Defekt in Betracht gezogen, doch auch eine Fehlmanipulation des Fahrers konnte nicht ausgeschlossen werden. Für unwahrscheinlich hielt man einen Sekundenschlaf, zumal der Unfall am Morgen auf dem Arbeitsweg nach Appenzell – Angerer lebte in Teufen – geschehen war.

      Er könnte einer Katze ausgewichen sein, dachte Valerie. Sie wusste um Philipps Tierliebe. Dass er, wie sie in der Zeitung gelesen hatte, nicht angeschnallt war, verwunderte sie nicht. Bei gemeinsamen Fahrten hatte sie ihn gelegentlich auf die Gurten aufmerksam gemacht.

      Kurz nachdem sich Valerie auf den Rückweg nach Gais gemacht hatte, fuhr ein Polizeiwagen langsam an der Unglücksstelle vorbei. Wachtmeister Pirmin Köchli, seit zwölf Jahren im Polizeidienst, schüttelte den Kopf. «Unverständlich», murmelte er vor sich hin. Köchli war vor kurzem vierzig geworden. Er hatte einen kantigen Kopf mit kurzem, dunklem Haar und war von sportlicher Gestalt.

      «Hast du ihn gekannt?», fragte sein Kollege, Gefreiter Edi Tobler, der neben ihm sass. Er war jünger, rotgesichtig, untersetzt und mit deutlichem Bauchansatz.

      «Wir haben uns gelegentlich im Fitness-Center getroffen und auch mal in der Garderobe miteinander geplaudert.» Nach kurzem Schweigen fügte Köchli hinzu: «War ein feiner Kerl.» Es klang wie ein Seufzer.

      «Er soll Arzt gewesen sein.»

      «Ja! Er hat an der Privatklinik Schönbüchel in Appenzell gearbeitet. Vor drei Jahren ist er aus Afrika zurückgekehrt, wie er mir erzählt hat. War in Äthiopien für die Organisation ‹Ärzte ohne Grenzen› tätig. Kürzlich hat er im Lindensaal einen Vortrag über das Land und seine Arbeit dort gehalten.»

      «Ein eigenartiger Unfall. Und keine Gurten. Man muss sich fragen, ob es nicht Absicht gewesen sein könnte.»

      «Kann ich mir nicht vorstellen. Wenn schon, dann gäbe es doch gerade für einen Arzt andere Möglichkeiten. Oder glaubst du, er würde auf diese Art ein Leben im Rollstuhl riskieren?»

      «Warum sind denn keine Spuren zu sehen? Er hat gar nicht gebremst», wandte Tobler ein.

      «Wahrscheinlich ging alles zu schnell. Es braucht nur Bruchteile einer Sekunde, wenn er …»

      «Kennst du die Frau, die da geht?», unterbrach ihn Tobler. «Sie scheint von der Unfallstelle zu kommen.»

      «Ich hab sie schon gesehen.» Köchli runzelte die Stirn, kniff die Augen zusammen. «Genau. Im Café neben unserem Posten. Ich glaube gar, dass sie mit Doktor Angerer dort war. Eine attraktive Frau.»

      «Sie muss ihn gut gekannt haben, dass sie zur Unfallstelle gekommen ist. Sollen wir sie …?»

      «Nein», sagte Köchli schnell, «nicht jetzt. Warten wir mal, was die weiteren Untersuchungen der Gerichtsmedizin und der Kriminaltechnik ergeben. Zudem steht die Besichtigung von Angerers Wohnung noch aus. Man wartet auf seinen Bruder. Soll im Tessin leben.»

      «Wohin geht’s nun?», fragte Tobler.

      «Zurück zum Posten. Gern würde ich mich am Arbeitsplatz des Toten umsehen, um mir ein besseres Bild von ihm zu machen. Doch das müssen die Innerrhoder übernehmen. Leider. Und für ein Rechtshilfegesuch reicht die Begründung kaum.»

      «Das heisst, du schliesst Fremdverschulden nicht aus?» Und auf Köchlis Schulterzucken hin: «Denkst du wirklich, es könnte eine Manipulation vorliegen?»

      «Nicht eigentlich. Trotzdem würde ich gern mehr über das Umfeld des Arztes erfahren. Ich kann ja versuchen, einen Kollegen anzuspitzen. Ich denke da an einen Sportsfreund aus Appenzell.»

      «Zuletzt wird man das Ganze als Selbstunfall abhaken müssen», sagte Tobler. Mit einer Handbewegung tat er kund, dass ihm das vertiefte Interesse für den Fall fehlte.

      «Für jeden Unfall gibt es einen Grund.» Köchli klang bestimmt. «Auch wenn es nur eine Unaufmerksamkeit war, irgendeine. Vielleicht wegen einer Wespe im Wagen. Wer weiss das schon?»

      «Und wie will man so etwas je beweisen können?»

      «Da hast du recht.»

      Drei Tage vergingen, ohne dass der Fall irgendwelche Klärung erfuhr. Am Wagen, einem VW Golf, wurde kein technischer Defekt festgestellt, und im Blut des Verunglückten fanden sich keine verdächtigen Spuren. Zudem meldete Tobias Kaufmann – der Innerrhoder Kollege, den Köchli um Beistand gebeten hatte –, der Verunglückte habe keine Probleme am Arbeitsplatz gehabt. Der Chefarzt der Klinik Schönbüchel habe jegliche fachliche oder persönliche Unstimmigkeit verneint.

      Dann aber folgte eine Überraschung. Was ihnen Samuel Angerer übermittelte, entbehrte nicht einer gewissen Brisanz: Eine Immobilien-AG habe den Eingang eines Briefes bestätigt, worin sein Bruder die Kündigung der Wohnung eingereicht habe. Auf den nächstmöglichen Termin. In Philipps Unterlagen habe er zudem die Bestätigung der Post