Murbach schien ehrlich verwirrt. «Ich hab die Leine durchgeschnitten, sie nach oben getragen … ich weiss, ich hätte das nicht tun sollen … aber ich konnte nicht klar denken, ich bin nun mal …»
« … ein emotionaler Mensch, ich weiss.» Markovics Stimme verriet nichts.
Er konnte ihr nicht ins Gesicht sehen, dachte Gisiger. Er sah es vor sich, wie eine Szene aus einem von Murbachs nicht ganz zu Ende gedachten Videofilmen. Eine Frau sitzt auf dem Sofa, mit dem Rücken zur Tür, blättert in ihrem Magazin, hört ihn nicht hereinkommen. Er packt sie von hinten, erwürgt sie mit ihrem eigenen Schal, wird dann von plötzlicher Reue übermannt. Er trägt sie ins Schlafzimmer, legt sie ins Bett, den Blick von ihrem Gesicht abgewandt, von ihren blutunterlaufenen Augen, der geschwollenen Zunge. Er deckt sie zu, als würde sie schlafen. Dann Panik – er macht eine Flasche auf, im Dusel denkt er sich diese Inszenierung aus, wählt die Nummer des Notrufs. Er muss sich für sehr viel klüger halten, als er ist – oder uns für sehr viel dümmer.
Die gerichtsmedizinische Untersuchung würde eindeutig zeigen, ob ein Seidenschal oder eine Wäscheleine die Kehle der Toten zugeschnürt hatte. Und ob der Zug waagrecht von vorn nach hinten oder schräg nach oben verlaufen war. Fehlte nur noch das Motiv. Doch das würde er ihnen bestimmt auch gleich liefern:
«Und hier, das lag auf dem Tisch!»
Murbach langte in seine Hemdtasche, zog ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus. Er hielt es erst Markovic hin, und als dieser nicht danach griff, Gisiger. Gisiger zog betont umständlich ein sauberes Taschentuch hervor, legte es über seine Finger und fasste dann das Stück Papier an einer Ecke an. Er schüttelte es ein paarmal, bis es sich öffnete. Es war kein Brief, sondern eine Seite aus einem Notizbuch, unsorgfältig herausgerissen, mit fliehenden Buchstaben bedeckt. Verzweifelte Worte, an niemanden gerichtet, nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Kein Brief.
Ich kann nicht mehr ich kann nicht mehr ich kann nicht mehr ich Du siehst mich nicht. Ich weiss nicht mehr, wer ich bin.
Es gibt mich nicht mehr
Wo bist du wo bin ich
Bitte bitte bitte
Ich muss hier raus
ich kann nicht mehr
«Sehen Sie, sie war gar nicht mehr sie selbst! Sie konnte sich nicht einmal mehr klar ausdrücken … sie war total verwirrt! Und dann ruft mich ihr Anwalt an und sagt, sie habe die Scheidung eingeleitet, das Haus verschenkt … Das hätte sie nie getan, sie war nicht bei sich … das ist doch eindeutig!»
«Ihr Anwalt hat Sie angerufen? So spät?»
«Nein, das war …»
« … bevor Sie ihre Frau ‹gefunden› haben?» Markovic zeichnete mit den Fingern Anführungsstriche in die Luft. Dann schaute er zu Gisiger hinüber und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, als zählte er Geld. Gisiger griff in seine Hosentasche und holte sein Portemonnaie heraus.
«Meine Herren?» Der Amtsarzt stand in der Tür.
«Wo ist das Schlafzimmer?», fragte Gisiger.
«Ich zeig es Ihnen.»
«Nichts da!» Markovic hielt Murbach zurück. «Wir beide warten hier!»
Murbach nickte. «Die Treppe hoch, die letzte Türe am Ende des Flurs.»
Der Arzt ging voraus, er sagte nichts, hielt den Kopf gesenkt. In Gedanken versunken. Vielleicht war er auch nur müde. Sie waren alle müde.
Vor der Schlafzimmertür blieb er stehen und liess Gisiger den Vortritt. Gisiger öffnete die Tür. Das Zimmer war so gross, dass das Bett in seiner Mitte fast klein wirkte. Es war ein Himmelbett aus dunklem, reich geschnitztem Holz, mit weissem Leinen bezogen. Auf der weissen Überdecke lag sie auf dem Rücken. In einem grün-weiss gemusterten Wickelkleid, die langen braunen Haare auf dem Kissen ausgebreitet, um den Hals ein Stück gelbe Wäscheleine, starrte sie mit offenen Augen an die Decke.
Mit offenen Augen?
Der Arzt machte einen Schritt auf das Bett zu, bückte sich, berührte ihren Hals mit zwei Fingern. Dann richtete er sich wieder auf und schaute Gisiger an. Sein Blick war schwarz.
«Wollt ihr mich verarschen?»
Vancouver Island, heute
«Es bin nicht ich, es ist ein Inukshuk», sagte Amanda. «Ein Wie-ein-Mensch.»
Officer Lovechild nickte. «Wie das Olympia-Maskottchen!» Er zog seinen Schlüsselanhänger aus der Tasche, an dem eine versilberte Version der klobigen, aus Steinblöcken zusammengesetzten, menschenähnlichen Figur baumelte.
«Genau.»
Amanda hatte einen solchen zum erstenmal in einer Ausstellung über die Kunst der Ureinwohner des amerikanischen Nordens, aus Alaska, Grönland, Kanada gesehen. Traditionelle und zeitgenössische Skulpturen und Gefässe wurden gezeigt, die sich erstaunlich ähnlich sahen. Dieselben weichen, klaren Formen, dieselbe Bearbeitung, die den harten, kalten Stein weich, warm, seidig scheinen liess. Plötzlich stand sie vor einem gehörnten, zähnefletschenden Wesen aus glänzendem grauem Stein, das sie an eine Figur aus dem Kinderbuch «Wo die wilden Kerle wohnen» erinnerte. Ein wilder Kerl? Nein, ein Inukshuk. Ein Wie-ein-Mensch. Diese Statuen, las sie, dienten als Wegweiser, wie die Steinmannli in den Schweizer Alpen. Sie wurden bei der Jagd eingesetzt und manchmal auch in leeren Behausungen zurückgelassen. Als Platzhalter. Hüter des kalten Herdes.
«Ich war hier», sagte der Wie-ein-Mensch. «Auch wenn ich jetzt weg bin: Ich war hier.» Lange hatte sie vor dem Glaskasten gestanden und sich vorgestellt, sie könnte dieses zähnefletschende Ding mit nach Hause nehmen und an ihre Stelle setzen. Es würde endlose Sitzungen und Besprechungen für sie aushalten und Jonas zuhören, wenn er sich über die lähmende Wirkung beklagte, die ihre Ehe auf seine Kreativität habe.
Die Idee liess sie nicht mehr los. Plötzlich begegnete sie ihr überall. Sie hing in der Luft.
Gespräche im Freundeskreis drehten sich um die Notwendigkeit und die Unmöglichkeit der modernen Existenz, überall gleichzeitig zu sein, in allen Zeitzonen vertreten, die unterschiedlichsten Rollen gleichzeitig ausfüllend. «Wenn man sich bloss klonen könnte!» Jemand schenkte ihr ein Buch über einen Schriftsteller, der gleich sieben Doppelgänger auf Lesereise schickte. Sie zappte sich durch das Spätabendprogramm und blieb bei einer Anwaltserie hängen, in der die Beziehung eines Mannes zu einer erstaunlich lebensechten Sexpuppe legalisiert wurde, mit der er glücklicher war als mit jeder lebenden Frau. Wenig später las Amanda einen Artikel über die Firma in Japan, die diese qualitativ hochstehenden Sexpuppen herstellte. Puppen, die aus hautähnlichem Material und nach menschlichem Vorbild gestaltet wurden, auf Wunsch und gegen einen Aufpreis nach Fotos und exakten Massen: Wie-ein-Mensch.
Sechs Wochen dauerte es, bis die Puppe geliefert wurde. Sechs Wochen lang beobachtete Amanda ihren Mann. Sie sah noch einmal alles, was sie an Jonas geliebt hatte. Seine Unverschämtheit, sein schiefes Grinsen, seine schmalen Hüften. Die Art, wie er durch Menschen hindurchschaute. Wie er sich bewegte.
Wie wenn man sich zum Haareschneiden anmeldet, dachte sie etwas respektlos. Kaum hat man einen Termin, sitzen die Haare wieder perfekt. Wollte sie das Ende ihrer Ehe wirklich mit dem Kappen ihrer Haarspitzen vergleichen? Sie wartete auf ein Zeichen. Eine Annäherung. Es passierte nichts. Jonas fuhr ohne sie nach Paris und dann direkt in ihr Haus in den Bergen.
Die Puppe wurde in der versprochenen neutralen Verpackung geliefert. Sie war leicht. Viel leichter als ein Mensch. Erst recht einer aus Stein. Aber sie fühlte sich tatsächlich an wie ein Mensch, weich, trocken, warm. Amanda wickelte sie in ihr Lieblingskleid und legte ihr den bunten Seidenschal um, den Jonas ihr vor Jahren geschenkt hatte. Dann setzte sie ihre Stellvertreterin auf ihren Lieblingsplatz auf dem Sofa, legte ein ART-Magazin in ihren Schoss, strich ihre Haare zurück, fuhr ihr mit einem Finger über die Wange.