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Mord in Switzerland


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mitnahm, als vielmehr die Schädigung seines Rufs?»

      «Ihn bedrückte, dass sich Leute wegen dieser Anwürfe von ihm abgewendet haben, selbst Leute, mit denen er zuvor freundschaftlichen Umgang pflegte. Er schloss daraus, dass ihm diese Menschen ein solch hässliches Verhalten zutrauten. Über diese Enttäuschung kam er nur schwer hinweg.»

      Köchli nickte, als wollte er sagen: Das passt ins Bild.

      Als Valerie auf die Uhr schaute – sie fuhr mit der Bahn zur Arbeit –, rief Köchli nach der Bedienung. «Noch etwas», sagte er, bevor sie weggingen. «Was ich von Ihnen erfahren habe, ist für mich so etwas wie eine Bestätigung. Einiges aber wird dennoch rätselhaft bleiben.» Er dachte an die Aussagen von Doktor Hiestand oder vielmehr an das, was dieser verschwiegen hatte.

      «Und was für mich bleibt», sagte Valerie beim Abschied, «ist die Überzeugung, dass Philipp einer Katze ausgewichen ist.»

      Köchli schaute ihr nach, wie sie leichten Schrittes zum Bahnhof ging. In dieser Vorstellung mag ein wenig Trost stecken, sagte er sich. Wahrscheinlich aber ist es eine andere Katze, der er ausgewichen ist. Eine falsche Katze! Bei diesem Gedanken hatte er das Bild vor Augen, das er aus Appenzell erhalten hatte.

      Köchli war in der folgenden Woche mit seinem Kollegen Edi Tobler unterwegs, um auf der Strecke nach Haslen einen Sachschaden aufzunehmen, als vor ihnen zwei Frauen mit Walkingstöcken die Strasse überquerten.

      «Aha!», entfuhr es Köchli.

      «Was ist?» Tobler schaute ihn fragend an.

      «Nichts weiter», wich Köchli aus. «Ich bin nur überrascht, die Damen zusammen unterwegs zu sehen.»

      «Kennst du die beiden denn?»

      «Ja und nein. Ich hatte vor gewisser Zeit mit ihnen zu tun», antwortete Köchli, «in einer eher banalen Angelegenheit.»

      «Immer diese verdammten Baustellen», schimpfte Tobler, als sie kurz danach vor einem Rotlicht warten mussten.

      Kaum von der Arbeit zurück, rief Pirmin Köchli seinen Kollegen Kaufmann an.

      «Hallo, Tobias. Ich glaube, nun den Grund zu kennen, warum Doktor Hiestand seinem Kollegen Angerer in der Klinik nicht beigestanden ist und warum er dir die Vorkommnisse in der Klinik verschwiegen hat.»

      «Da bin ich aber gespannt.»

      «Die Frau des Chefarztes scheint mit dieser Anina Wagner befreundet zu sein. Ich habe sie zusammen beim Walking gesehen. Was meinst du dazu?»

      «Was soll ich dazu sagen?»

      «Für mich schliesst sich damit ein Kreis. Ich denke mir, dass sich Doktor Hiestand in einer Zwickmühle befunden hat. Er stand vor der Entscheidung, wer in dieser unseligen Angelegenheit Täter und wer Opfer ist. Das heisst, er hatte Stellung zu nehmen für die eine oder den andern. Und so, wie es jetzt aussieht, ist er bei seinem Richterspruch unter häuslichem Einfluss gestanden.»

      «Glaubst du wirklich, dass dies etwas mit dem Unfall zu tun hat?», fragte Tobias Kaufmann mit hörbarer Verwunderung.

      «Ich stelle mir das so vor: Angerer ist während seiner Fahrt zur Arbeit all das, was ihm widerfahren ist, hochgekommen. Auch seine Kündigungen, die ihm nun voreilig erschienen. Gemäss der Aussage einer Frau, die ihn gut gekannt hat, war Doktor Angerer ein anständiger und empfindsamer Mensch. Die Verletzung, die ihm durch das Gerücht zugefügt wurde, hatte ihm arg zugesetzt. Während der Fahrt zur Arbeit könnte er die Situation pötzlich als unlösbar empfunden haben. Und so kam es zu einer Kurzschlussreaktion.»

      «Also doch Selbstmord!»

      «Nein», entgegnete Pirmin Köchli bestimmt. «Einen Selbstmord hätte Angerer gewiss anders geplant. Das muss eine spontane Aktion gewesen sein. Schon zehn Sekunden später wäre es vielleicht nicht mehr dazu gekommen. Nein! Nach allen Indizien ist das für mich im wahrsten Sinn des Wortes: ein Rufmord.»

       LUZERN – CHICAGO

      MITRA DEVI

      Zwei Stunden vor dem ersten und letzten Mord, den Julia je in ihrem Leben begehen würde, löste sich ein Minischneebrett von einem Hausdach und landete auf ihrer scharlachroten Dauerwelle. Verärgert wischte sich Julia den Schnee vom Kopf. Hunderte dickvermummter Passanten, die sich genauso gut als Landeplatz für heimtückische Stadtlawinen angeboten hätten, stapften unbehelligt die Luzerner Hertensteinstrasse entlang durch den Matsch – doch Julia kriegte die weisse Ladung ab. Wieder einmal war sie getroffen worden. Und nur sie.

      Das war ja nichts Neues. Als Gott den Inhalt der Kiste «Heimsuchungen aller Art» über die Menschheit geschüttet hatte, musste ihm über Julia die Hand ausgerutscht sein. Julia hatte sich nach ihrer öden Kindheit in eine linkische Jugendliche verwandelt, die niemandem in die Augen schauen konnte, und war bei der Schulabschlussdisco von Eberhard – klein, übergewichtig und mit einer Stupsnase, die wie eine Skischanze gen Himmel ragte – zum Tanzen aufgefordert worden. Leider hatte sie zugesagt. Sie wurden zum Gespött des Abends.

      Nach einer völlig unpassenden Lehre im Mode-Versandhaus «Lindemann und Föhn», deren einziger Zweck sich darin erschöpft hatte, dem Chef das optimale Schaumhäubchen auf dem Kaffee zu präsentieren, heiratete sie kurze Zeit später. Inzwischen nannte sie eine unübersichtliche Zahl Familienmitglieder ihr eigen, die aus ihrem Mann Eberhard (der sich unterdessen Hardy rufen liess) und mehreren pubertierenden Töchtern bestand sowie einem längst überfälligen Pudel, zwei Meerschweinchen mit verdächtig dicken Bäuchen – «garantiert Männchen», hatte ihre Jüngste versichert – und einer Horde Hamster, die sich schneller vermehrte als Fruchtfliegen.

      Nun war Julia Ende dreissig. Ihre Ehe mit Hardy war im Eimer, die Kinder waren missraten. Zu alledem stand sie eigentlich auf Frauen, was ihr leider erst in ihrer Hochzeitsnacht klargeworden war. Gleich nach der Trauung waren sie nach Mallorca geflogen, die Nacht sollte etwas Besonderes sein. Hardy hatte die Hotelboys beauftragt, das französische Doppelbett mit Rosenblüten zu bestreuen. Als sie nach dem opulenten Viergangmenü auf ihr Zimmer kamen, war die Bettdecke mit muffig riechenden Nelkenblättern übersät, da die Boys in der Eile keine Rosen hatten auftreiben können. Ihr Frischvermählter konnte sich nicht mehr zurückhalten und erstürmte Julia sogleich. Er warf sie aufs Bett, drang in sie ein, stöhnte eine Minute, bäumte sich kurz auf und schlief danach selig wie ein Säugling an ihrem Busen ein. Julia lag auf den welken Nelken und murmelte in die Stille, die nur durch sein Schnarchen unterbrochen wurde: «Und das soll alles sein?» Doch da war es schon zu spät. Sie wurde in dieser Nacht schwanger, verdrängte ihre Sehnsüchte nach liebevollen Frauenhänden, die sie beglückten, und hoffte, sie würde sich an Hardy gewöhnen. So ein übler Kerl war er ja gar nicht, andere schlugen ihre Gattinnen oder besuchten Prostituierte. Was das anging, hatte er immerhin seine Prinzipien.

      Julia hatte ausser dem Krimilesen keine Interessen. Ihr Alltag war weder interessant noch abenteuerlich, geschweige denn verwegen. Das einzig Verwegene in ihrem Leben war die scharlachrote Dauerwelle. Und ihre Mitgliedschaft bei der Al-Capone-Vereinigung natürlich. Wobei Mitgliedschaft sogar untertrieben war. Julia hatte den Verein selber gegründet und leitete ihn seit etlichen Jahren. Luzern pflegte ja mehrere Städtepartnerschaften. Unter anderem mit Olomouc und Cieszyn, wo immer sich diese Orte auch befinden mochten – und mit Chicago. Was für Julia etwas ganz Besonderes bedeutete, denn es war die Stadt des legendären Gangsters Al Capone. Schon als Kind hatte sie ihn bewundert, verkörperte er doch all das, was sie in ihrem Leben vermisste. Als Luzern 1999 die Partnerschaft mit der amerikanischen Grossstadt einging, hatte Julia zum erstenmal Initiative gezeigt und die Al-Capone-Vereinigung ins Leben gerufen. Sobald sich das 100. Mitglied anmeldete – so nahm sie sich vor –, würde sie eine Jubiläumsreise nach Chicago organisieren. Als Erstes würde sie die bekannte «Al-Capone-Bar» mit ihren Live-Jazzkonzerten in der South Michigan Avenue besuchen und sich einen Brandy hinter die Binde