mit dem Austritt drohte. Bis jetzt warteten sie vergeblich auf Neuanmeldungen, doch Julia verschickte tapfer ihren Newsletter, aktualisierte die Webseite und plante regelmässig Veranstaltungen, die sie jeweils kurz vor dem Termin mangels Anmeldungen annullierte. Neulich hatte sie einen Imitations-Fotowettbewerb online geschaltet: Wem es gelänge, Al Capone glaubhaft darzustellen, dem winke ein gerahmtes Poster des Unterweltkönigs. Es hatte sich niemand gemeldet.
Anderthalb Stunden vor dem Mord kaufte sich Julia eine grosse Portion Marroni, da sie heute keine Lust hatte zu kochen. Sie schlenderte durch die Gassen, betrachtete die Auslagen der Läden mit all den Engeln, Schneemännern und Nikoläusen und bog dann in die Hirschmattstrasse ein. Es war wieder ein ätzender Arbeitstag gewesen. Ihr Job hatte sich in all den Jahren nicht verändert. Der Chef kriegte zwar sein Schäumchen inzwischen selbständig auf die Reihe, doch Julias Arbeit bestand aus nichts anderem als dem Entgegennehmen von Reklamationsanrufen. Sie musste vertrösten, erklären und beschwichtigen. Das beige Deux-Pièce «Abendblüte» sei zu bieder, hatte heute eine Anruferin gemeint, der anthrazitfarbene Hosenanzug «Frau von heute» hänge zu schlaff um die Taille, behauptete eine andere, und das kleine Schwarze, schimpfte ein Mann, sei nicht klein genug. Was erwarteten die Leute denn von einem Versandhaus, das mit dem Slogan warb: «Lindemann und Föhn – altbewährt ist schön»?
Ein kalter Windstoss fegte durchs Quartier. In zwei Tagen war Weihnachten. Da sie von Hardy nichts erwarten konnte, von dem er nicht selber profitierte, wie einem doppelstöckigen Dampfkochtopf mit herausnehmbarem Abtropfsieb oder einem Jahresabo der Zeitschrift «Angeln heute», betrat sie die Buchhandlung «Hirschmatt», um sich selbst zu beschenken. Sie entdeckte den neuesten Alder-Olsen-Krimi und kaufte ihn kurzerhand. Dann stapfte sie weiter, immer darauf bedacht, herabstürzenden Schneebrettern auszuweichen. Sie kam am «Big Point Tattoo Shop» vorbei, aus dem gerade eine junge Frau mit schmerzverzerrtem Gesicht trat und sich die Schulter hielt. Julia fragte sich, womit die Frischtätowierte ihren Körper geschmückt hatte. Maori-Muster? Ein Einhorn? Kevin forever? Zu Beginn ihrer Ehe hatte Hardy tatsächlich ein Herz mit Julias Namen auf seinen Unterarm stechen lassen wollen. Doch Julia hatte ihn mit den Worten «und was, wenn wir uns einmal trennen?» davon abgehalten. «Wir trennen uns nie, mein Schatz», hatte er geantwortet. «Wir sind füreinander geschaffen.» Von wegen. Julia guckte sich immer wieder seufzend nach schönen Frauen um. Und Hardy auch. Peinlicherweise hatten sie den gleichen Geschmack. Beide fuhren auf grosse Dunkelhaarige ab.
Eine Stunde vor dem Mord kam Julia zu Hause an. Herkules, ihr Pudel, empfing sie mit halbherzigem Wedeln. Er war der Inbegriff von Faulheit. Wenn sie mit ihm Gassi ging, war er zu bequem, sein Bein zu heben, und bepinkelte sich regelmässig selbst. Jetzt schaute er sie unter seinen schlaffen Augenlidern an, befand sie für zu wenig unterhaltsam und trottete wieder davon. Hardy war mit seinen Kollegen beim Kegeln wie jeden Freitagabend. Die drei Töchter pflegten ihre obligate Freizeitbeschäftigung – Kiffen, Chillen und Wodka Lemon trinken im Kreise ihrer gepiercten, chattenden und twitternden Freundinnen. Nein, die Erziehung war Julia nicht geglückt.
Eine halbe Stunde vor dem Mord klingelte das Telefon. Herkules, der sich zu ihren Füssen niedergelassen hatte, hob kurz die Ohren, dann döste er wieder weg. Julia stellte ihren Tee neben den Adventskranz aufs Glastischchen und nahm den Anruf entgegen. Eine fremde Stimme meldete sich. Sie klang heiser, als wollte der Sprecher – es handelte sich um einen Mann mit unangenehm starkem Zürcher Dialekt – entweder nicht erkannt werden oder als hätte er seine letzten Abende in einer rauchgeschwängerten Bar verbracht. Sofern es solche noch gab.
«Hören Sie mir überhaupt zu?», krächzte der andere. «Ich habe Sie gefragt, ob Sie Julia Brenner sind!»
«Entschuldigen Sie», stammelte Julia. «Ich dachte gerade an rauchgeschwängerte Bars.»
«Wie bitte? Verdammt, sind Sie Julia Brenner oder nicht?»
«Ja, die bin ich. Mit wem spreche ich?» Die Unhöflichkeit des Mannes ging ihr gehörig auf den Keks.
«Sie haben etwas, das mir gehört», fuhr der andere fort.
«Ich wüsste nicht, was das sein sollte. Ich kenne Sie ja gar nicht.»
Eine Sekunde lang herrschte Stille. Dann fragte der andere: «Sind Sie allein zu Hause?»
«Was geht Sie das an! Ich lege jetzt auf. Übrigens ist mein Mann da. Und zwei seiner Freunde. Nein, drei.»
Ein fieses Kichern erklang aus dem Hörer. «Natürlich. Warum nicht gleich ein Dutzend.»
In diesem Moment schellte die Türglocke.
Herkules zeigte kein Anzeichen von Interesse, schnarchte zufrieden vor sich hin und sabberte auf seine Pfoten.
«Hören Sie das?», flötete Julia triumphierend in den Hörer. «Es läutet. Da kommt noch ein weiterer Freund meines Mannes zu Besuch. Adieu.»
Sie legte auf und marschierte durchs Wohnzimmer. So was Seltsames! Was hatte der Typ bloss gewollt? Sollte das ein Scherz sein? Vielleicht wurde das ganze Gespräch demnächst in einer dieser Sendungen mit versteckter Kamera ausgestrahlt. Hatte sie sich lächerlich gemacht? Sie überlegte eine Sekunde, während sie zur Tür ging. Nein, sie konnte sich nichts vorwerfen. Sie war sogar aussergewöhnlich erfinderisch gewesen. Die Nation hatte keinen Grund, über sie zu lachen. Sie drehte den Schlüssel und drückte die Klinke hinunter.
Da knallte die Tür gegen ihren Kopf. Julia prallte zurück.
«He! Was soll das?», rief sie, während sie sich an der Wand abstützte.
Ein Mann drang ein. Dichter Vollbart, dunkle Brille, Wollmütze tief ins Gesicht gezogen. «Hallo, Schätzchen», feixte er. «Sie haben was, das mir gehört.» Zürcher Dialekt, etwas heiser. Wie konnte sie nur so dumm sein! Das war kein billiger Kamera-Trick, das war bitterer Ernst.
Er kickte die Tür mit dem Fuss ins Schloss, sperrte ab und steckte den Schlüssel ein. Bevor sie reagieren konnte, legte er den Zeigefinger auf ihre Lippen und flüsterte: «Keinen Mucks, sonst muss ich die hier gebrauchen.» Er tippte auf die Pistole, die in seinem Gürtel steckte.
Julia erstarrte vor Schreck.
Dann entspannten sich ihre Nerven. Aber natürlich – der Mann hatte ihre Online-Ausschreibung gesehen und bewarb sich für den Al-Capone-Fotowettbewerb. Allerdings schien er die Bedingungen nicht genau gelesen zu haben. Von Einbruch war nie die Rede gewesen. Auch entsprach seine Aufmachung nicht ganz derjenigen des echten Gangsters.
«Mit diesem Outfit», sagte sie, «gewinnen Sie nie.»
Zügig durchpflügte er den Eingangsbereich, ging zum Telefon und durchtrennte das Kabel. Er stieg über Herkules, der im Tiefschlaf dümmlich vor sich hinzuckte, dann sagte er: «Her mit dem Handy!»
Offensichtlich hatte sie sich geirrt. Es ging nicht um den Wettbewerb. «Ich habe kein Handy.»
«Los, rücken Sie’s raus! Ich tu Ihnen nichts, wenn Sie die Klappe halten und mich in Ruhe arbeiten lassen.»
Widerwillig übergab sie ihm ihr Mobiltelefon.
Dann drängte er sie ins Schlafzimmer.
«Aber …!», rief sie. «Was suchen Sie überhaupt? Wir haben keine Wertsachen im Haus.»
Er schob sie zum Bett. «Es wird nicht lange dauern.»
«Ich verstehe nicht.»
«Das brauchen Sie auch nicht.» Er verschloss das Schlafzimmer und liess den Schlüssel ebenfalls in seiner Hose verschwinden. Mit einer raschen Bewegung zog er ein Paar Handschellen hervor, schnappte sich ihr rechtes Handgelenk und kettete sie schneller ans Bettgestell, als sie «Pfoten weg, Sie Unhold!» sagen konnte.
Sie rüttelte an der Handschelle und schaute ihn vorwurfsvoll an. «Lassen Sie mich sofort wieder frei!» Als er keine Anstalten machte, liess sie sich entnervt auf die Matratze fallen.
«Wenn Sie schreien», knurrte er, «blas ich Ihnen das Gehirn aus dem Kopf. Obwohl das nicht allzu gross sein dürfte. Haben Sie kapiert?»
Sie nickte