Werk und kennzeichnet seinen intellektuellen Entwicklungsweg. Denn bedenkt man, wo dieser seinen Ausgang nahm, war eine solche Überzeugung keineswegs selbstverständlich. Vielleicht aber kann man sie als naheliegend bezeichnen: Kittsteiner, 1942 geboren, begann sein Studium 1962 in Tübingen bei Ernst Bloch, wechselte bald nach West-Berlin und wuchs so in die Studentenbewegung hinein. Wie er in autobiographischen Texten wiederholt betonte,3 kannte er den Impuls, Geschichte ‚machen‘ zu wollen oder vermeintlich gar zu müssen, aus eigener Erfahrung. Die Negation dieser Möglichkeit war also auch eine Revision vergangener eigener Überzeugungen und ihre Dringlichkeit für Kittsteiner erschließt sich daraus, dass er sie ins Zentrum seiner Arbeit rückte.
Der hier wieder vorgelegte Band gehört ins Vor- und Umfeld eines Forschungsvorhabens, das Kittsteiner in der eingangs zitierten Rezension von 1982 bereits implizit benannt und in Ansätzen skizziert hatte: Die Stufen der Moderne. In ihm verfolgte Kittsteiner die Frage weiter, in die er seine bei dem stets an Geschichtsphilosophien interessierten Jacob Taubes verfasste Dissertation Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens hatte münden lassen und auf die er auch in der Einführung zu Out of Control wieder verwies: „Schlägt man sich die Vorstellung aus dem Kopf, ihres [der Geschichte, JW] inhaltslosen Prozesses irgendwann Herr werden zu können, so kommt es auch nicht mehr auf die Aufgabenstellung an, sie durch ‚gesellschaftliche Praxis‘ auf einen imaginären Kontrollzustand zu bringen, sondern man muß nach neuen Bestimmungen suchen, was es heißen kann, ein Lebewesen zu sein, das seiner nicht nicht-machbaren Geschichte nicht entrinnt.“4
Wer allerdings meint, der Geschichte eine andere Richtung oder Form aufzwingen zu müssen, wird mit der Frage konfrontiert, wie weit er zur Erreichung seiner Ziele zu gehen bereit ist. Diese Problematik führt von der Geschichtsphilosophie zur Geschichte des Gewissens. Kittsteiners kulturgeschichtliche Habilitationsschrift zur Formung des „modernen Gewissens“ im Spannungsfeld von Elitendiskursen und Alltagsrealitäten in Deutschland zwischen Reformation und der ‚langen‘ Aufklärung – bzw. in der „Sattelzeit“, wie Reinhard Koselleck, der die Arbeit betreute, die Übergangszeit zwischen Alter Welt und Moderne, zwischen magischem und rationalem Weltbild bezeichnet hatte – war ein erster Versuch diese Thematik zu erfassen.5 Unmittelbar nach Fertigstellung 1988 schrieb Kittsteiner an Koselleck über seine kommenden Vorhaben: „Ich habe hier einen Plan entworfen, wie man die menschlichen Reaktionsweisen auf übermächtige Geschichtsstrukturen untersuchen könnte […]. Also im Grunde mein Dauerthema, angesiedelt jetzt jenseits der Sattelzeit, also im 19. und 20. Jahrhundert.“6 Bei diesem Vorhaben handelte es sich um das vorläufige Forschungsprogramm der Stufen der Moderne, das Kittsteiner nach mehreren Ansätzen schließlich als mehrbändige Deutsche Geschichte zu schreiben begann. Dieses Großwerk wäre eine Fortsetzung seiner Geschichte der Gewissensentwicklung in Deutschland bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts geworden und eine Untersuchung der Verbindungen zwischen Geschichtsauffassungen und Gewissensformationen. Kittsteiner schrieb über seine Auseinandersetzung mit Geschichtsphilosophie und Gewissensgeschichte: „Wenn ich überlege, was ich in den letzten Jahrzehnten auf den Gebieten der Geschichte und der Philosophie getrieben habe, dann waren es eigentlich zwei Gegenstandsbereiche: Das ganz Kleine und das ganz Große. Ich habe mich befaßt mit dem innersten Kern des Ichs, und den Philosophien über den Verlauf der Geschichte im Ganzen.“7
In Out of Control versammelte Kittsteiner 2004 zehn seit 1996 geschriebene Aufsätze, die er mit einer den Gesamtzusammenhang dieser Texte umreißenden Einführung und einem skeptischen Blick auf die ungebrochene Euphorie des ‚Geschichte machens‘ in neuerer postmoderner Theorie, also einem Ausblick in die Gegenwart, einfasste.
Die zwanzig Seiten, die hier unter dem schlichten Titel Zur Einführung folgen, sind ein prägnanter Überblick über die Fragen und Themenkomplexe, die Kittsteiner zu Beginn der Ausarbeitung seiner Fragment gebliebenen Deutschen Geschichte in den Stufen der Moderne bewegten. Die versammelten Texte werden hier über ihre Bedeutung im Rahmen dieses Vorhabens verortet. Im ersten Abschnitt Geschichtsphilosophie sind drei Texte versammelt, welche die Entdeckung der „Unverfügbarkeit der Geschichte“ und ihre Überlagerungen behandeln. Nach dem Verblassen der diese ursprüngliche Einsicht in die Unverfügbarkeit überdeckenden teleologischen Konstruktionen machte Kittsteiner die Herausbildung einer „heroischen Moderne“ aus, in der ‚die Geschichte‘ gewaltsam bezwungen werden sollte. In deren Ideenwelt werden in den Aufsätzen im Abschnitt Geschichtsdenken nach dem Ende der teleologischen Sekurität Vorstöße unternommen. In Geschichte und Gedächtniskultur schließlich werden die gewissensgeschichtlichen Folgen und Herausforderungen dieser Stufe der Moderne für Erinnerung und Historik thematisiert. Als sicher kann gelten, dass Out of Control und die beiden weiteren von Kittsteiner zusammengestellten Sammelbände das Material und das theoretische Kondensat des Konzepts der Stufen der Moderne enthalten.8
Die Zeichnung Giorgio de Chiricos auf dem Buchumschlag zeigt ein chaotisches Firmament, ein wahres Weltentheater, das dem Betrachter – mit wenig hilfreichen Antennen auf dem Kopf steht er am Bildrand – zwar viel Geschehen bietet, doch wenig Sinn. Sterne stürzen durcheinander, Saturnringe und Sonnen kreisen. Das Buch beginnt, wo das Denken des Betrachters einsetzt. Seine Setzungen, seine Suche nach einem Sinn dessen, was sich vor seinen Augen entfaltet, sind Thema der hier folgenden Texte.
Diese Vorstellungen von der Geschichte wirken auf das menschliche Verhalten zurück – und ‚formen‘ so selbst das Geschehen mit. Allerdings geschieht dies meist in anderer Weise, als von den Akteuren intendiert: „Geschichte ist eine Bewegung hinter dem Rücken der agierenden Personen, die genau genommen nicht wissen, was sie tun. Da ich selbst mich aber in der gleichen Situation befinde, bin ich weit entfernt davon, mich über meine Protagonisten zu erheben, ganz im Gegenteil, ich kann sie in einer um die Erfahrung der Unverfügbarkeit erweiterten Hermeneutik verstehen.“9 Diese Überzeugung verweist auf Kittsteiners Prägung durch die Studentenbewegung der 60er Jahre, ihre Nachgeschichte im Folgejahrzehnt und die drängenden Fragen, Themen und Lektüren dieses kulturellen und gesellschaftlichen Verwandlungsvorgangs. Für Kittsteiner „waren diese Jahre der großen Demonstrationen biographisch ganz einzigartig; es war eine Zeit monatelanger Hochstimmung. Unterlegt war das Ganze von der Musik der Beatles, der Rolling Stones, von Jimi Hendrix – und Gustav Mahler. Nur leider waren die politischen Ziele nicht durchsetzbar.“10 Auf die euphorischen Aufbrüche folgte der Kollaps des optimistischen Elans. Die Erkenntnis, dass die Revolution nicht hinter der nächsten Straßenecke warten und das gute Ende der Geschichte vorerst ausbleiben würde, wirkte sich in vielfältiger Weise auf die Protagonisten dieser Bewegung aus, die nun in Szenen zerfiel. Bei Kittsteiner führte sie zu vertiefter Lektüre – und der Entdeckung des ökonomisch-analytischen Marx hinter dem revolutionären der zunächst bevorzugten Frühschriften. Es war die Entdeckung des „Marktes“, der sich von den eigenen Weltveränderungsphantasien als gänzlich unberührt erwiesen hatte – und sogar die neue counter culture als lifestyle in neue Warengenerationen übersetzte. Dieser Markt folgte ganz offenbar seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten, ohne vom Wollen und (bewussten) Tun der Menschen, seien es Einzelne oder Massen, zielgerichtet beeinflusst zu werden. Doch es geschah noch mehr. Hinter dem Kanon der 60er Jahre, hinter Marx, Benjamin und Freud, tat sich ein weiter Horizont auf und ein verzweigtes Pensum, das zu bewältigen war: „Hinter Marx lauerte Hegel – und hinter Freud (was wir aber erst später merkten) zumindest zum Teil Schopenhauer und Nietzsche.“11 Kittsteiner gelangte von der identifikatorischen zur kritischen Lektüre und zur gedanklichen Verbindung von Geschichtsverlauf, Geschichtsvorstellungen und den historischanthropologisch deutbaren menschlichen Reaktionen auf diese.
In dieser intellektuellen Sozialisation liegt auch die eigentümliche Doppelstruktur von Kittsteiners Denken begründet. Denn während Kittsteiner Geschichtsvorstellungen analysierte, nahm er selbst an, dass es einen bestimmenden und dynamischen, wenn auch zielloschaotischen Motor des Geschehens gebe, der in und hinter dem verworrenen Treiben der menschlichen Akteure wirke. Hierin folgte er selbst einem Bild von der Geschichte. Es war ein von seinen Marxlektüren geformtes Geschichtsdenken. „Die Form der Geschichte“: für Kittsteiner ist es ihre – oft schwer erträgliche – Ziel- und Sinnlosigkeit, ihre Unverfügbarkeit.