ihre Prinzipien innerhalb der Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes gefunden werden.“6 Wir verstehen die Geschichte, weil wir sie selbst gemacht haben. Was auf den ersten Blick so einleuchtend klingt, ist die Lehre von der genetischen Definition, die auch Spinoza und Hobbes verwendet haben. Wir begreifen nur dasjenige, was unser Verstand selbst erschaffen hat.7 Vico hätte dann dieses Prinzip lediglich auf die Geschichte übertragen. Aber gerade da liegt das Problem. Gadamer hat es in Hinblick auf Dilthey und Vico so formuliert: Wenn wir davon ausgehen, dass wir nur geschichtlich erkennen, weil wir geschichtlich sind – haben wir uns damit wirklich eine erkenntnistheoretische Erleichterung verschafft? „Ist Vicos oft genannte Formel denn überhaupt richtig? Überträgt sie nicht eine Erfahrung des menschlichen Kunstgeistes auf die geschichtliche Welt, in der man von ‚Machen‘, d.h. von Planen und Ausführen angesichts des Laufs der Dinge überhaupt nicht reden kann? Wo soll hier die erkenntnistheoretische Erleichterung herkommen? Ist es nicht in Wahrheit eine Erschwerung?“8 Was Gadamer an dieser Stelle unterschlägt: Vico hat diese Erschwerung selbst bemerkt. Die „Welt der Völker“ ist von den Menschen gemacht, kein Zweifel. Aber die Natur der Menschen ist verderbt; sie sind von der Selbstsucht getrieben und verfolgen nur ihren eigenen Vorteil. Mit dem „Machen“ des Ganzen von Geschichte ist es menschlicherseits schlecht bestellt. Nur die göttliche Vorsehung kann, indem sie die Eigensucht der Menschen für ihre Zwecke nutzt, eine gerechte Gesellschaft hervorbringen. „Daher muß diese Wissenschaft sozusagen ein Beweis der Vorsehung als geschichtlicher Tatsache sein, denn sie muß eine Geschichte der Ordnungen sein, die jene, ohne menschliche Absicht oder Vorkehrung, ja häufiger gegen deren eigenen Pläne, dieser großen Gemeinde des Menschengeschlechts gegeben hat.“9
Vicos Lösung liest sich wie eine Vorwegnahme des Adam Smith und wiederholt sich in den Grundlagen der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie von Kant bis zu Hegel und Marx. Das Grundmotiv dieses Nachdenkens über Geschichte war es, dass dem Nicht-Machbaren eine gnädige „List der Vernunft“ zur Hilfe kommt, ein Prinzip, das das nicht-intendierte Resultat menschlichen Handelns zum eigenen bewussten Zweck einer fremden Instanz hinter unserem Rücken umbiegt.10 Paul Ricœur urteilt darüber, der Ausdruck „List der Vernunft“ mache uns nicht einmal mehr neugierig, „er stößt uns eher ab, wie der mißratene Trick eines auftrumpfenden Zauberkünstlers.“11 Offensichtlich hatte die Geschichtsphilosophie eine richtige Diagnose der historischen Verlaufsform und ihrer Zeitstruktur seit etwa 1780 gegeben; sie ist die erste Wissenschaftsform, die auf dieses Dilemma reagiert. Zugleich hatte sie sich aber an einer Therapie versucht, die nicht zu halten war.
Es gibt keine Vernunft in der Geschichte. Das Ziel und das innere Zentrum der Geschichte sind leer.
II. Out of Control
Im Jahre 1996 erschien eine Vorlesungsreihe der linksliberalen amerikanischen Ökonomin Saskia Sassen unter dem Titel: „Losing Control?“ Der Untertitel „Sovereignity in an Age of Globalization“ verrät ihren Ausgangspunkt. Es hat einmal eine traditionelle Souveränität der Nationalstaaten gegeben, aber es gibt keine mehr. „State sovereignity, nation-based citizenship, the institutional apparatus in charge of regulating the economy, such as central banks and monetary policies – all of these institutions are being destabilized and even transformed as a result of globalization and the new technologies.“12 Sassen fragt, was aus diesen Insignien des Staates geworden sei, aus seiner Souveränität, aus der territorialen Exklusivität, aus der Staatsbürgerschaft seiner Bürger. Sie antwortet, dass große Teile der Souveränität auf supranationale Organisationen wie GATT oder WTO übergegangen sind, und dass mit der Globalisierung der Kapitalmärkte eine „economic citizenship“ entstanden sei. Eine profitorientierte Gesellschaft von globalen Spielern,13 deren neue Finanzinstrumente für den Fluss der globalen Kapitalströme die Kontrolle der Zentralbanken für die Geldmengenregulierung und die Investitionsanreize unterhöhlt haben.14 Fast scheint es so, als stünden wir wieder vor der Ausgangsfrage des John Maynard Keynes, nur unter verschärften Bedingungen. Wenn die globalen Finanzmärkte höhere Profite erbringen als Investitionen in die Produktion, dann wird die Entwicklung eines Landes das Nebenprodukt „of the activities of a casino“.15 Losing control?
Welche Kontrolle? Hatte sie jemals bestanden? Es gibt in Hegels Rechtsphilosophie den berühmten Übergang vom Staat in die Weltgeschichte. In 339 Paragraphen hatte der Meister das Kunstwerk seines idealen Staates mit Fleiß aufgebaut und das System der „substanziellen Sittlichkeit“ entfaltet, in dem die partiellen Interessen des Bürgers mit dem Allgemeinen in Übereinstimmung gebracht werden sollen. Und nun, im § 340, wird all das wortwörtlich aufs Spiel gesetzt – „ein Spiel, worin das sittliche Ganze selbst, die Selbständigkeit des Staates, der Zufälligkeit ausgesetzt wird.“ Nur der Trost, dass auch in diesem Spiel noch „Geist“ sei, kann Hegel sagen lassen, das Recht dieses Weltgeistes sei das höchste und die Weltgeschichte sei das Weltgerichte.16 Schon Marx hatte erkannt, dass dieser Weltgeist in Wahrheit der Weltmarkt ist.17 Auf Hegels Trost wird man daher verzichten müssen, wenn das Spielcasino mit Aktien und Derivaten sich als Weltgericht etabliert hat. Zugleich wird deutlich, dass das Bewusstsein, einem nicht kontrollierbaren Prozess unterworfen zu sein, sehr viel älter ist, als das Abschätzen der Folgen der Globalisierung. Grundlage bleibt die Nicht-Verfügbarkeit der Geschichte, und diese Einsicht ist in den Theorien der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie von Kant bis Hegel in einer Prägnanz ausgedrückt, die manches gegenwärtige Verwundern über den Verlust der „Kontrolle“ obsolet erscheinen lässt. Die Geschichte im Zeitalter des Kapitalismus war nie unter Kontrolle der Menschen, darum ist ein Verlust nicht zu beklagen. Aus der Frage „Losing Control?“ wird dann die konstatierende Aussage „Out of Control“.
In Frage steht, was aus dieser nicht-kontrollierbaren Geschichte werden kann. Darauf weiß dieser Sammelband keine Antwort zu geben; er möchte nur einstimmen in eine Denkhaltung, mit diesem Prozess zu leben, sich an die Beleidigung des homo faber zu gewöhnen, dass er seines eigenen historischen Werdens nicht Herr ist. Nur eines kann nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gesagt werden: Die Versuche, die Geschichte unter Kontrolle zu bringen, waren immer noch schlimmer als der unkontrollierbare Prozess selbst. Es geht offenbar darum, ein Denken zu entwickeln, das sich von Kontroll- und Machbarkeitsvisionen verabschiedet und es lernt, kleine Korrekturen an der Richtung des Geschehens vorzunehmen, sozusagen Reparaturen bei laufendem Motor.18
III. Stufen der Moderne
Damit sind wir auch bei der Ausgangsfrage dieser Sammlung von Aufsätzen aus den letzten zehn Jahren angelangt. Sie alle umkreisen eine Problemstellung, die dem Autor seit dem Schlusssatz seiner Dissertation aus dem Jahre 1980 nachhängt: Was kann es heißen, ein Lebewesen zu sein, das seiner nicht-machbaren Geschichte nicht entrinnt?19 Die Frage betrifft die Gegenwart; das Material, an der sie bearbeitet wird, sind aber geschichts-philosophische Entwürfe aus der Zeit zwischen dem späten 18. und dem frühen 20. Jahrhundert. In dem Versuch zu einer kulturgeschichtlich ausgerichteten Epochengliederung der europäischen Geschichte zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert würde diese Zeitspanne zwei Perioden umfassen. Zur Erläuterung: Ich unterscheide eine „Stabilisierungsmoderne“ mit ihrem Zentrum etwa zwischen 1640 und 1720 von einer „evolutiven Moderne“, die mit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts einsetzt und die etwa bis 1880 reicht. Gemeint ist die Zeit der ökonomischen und politischen Doppelrevolution, der institutionellen und ökonomischen Dynamisierung der Geschichte. Diese einmal begonnene Stufe des Kapitalismus hat bis heute nicht aufgehört zu wirken; insofern ist sie nicht abgeschlossen und niemals abschließbar. Sie wird seit dem späten 19. Jahrhundert jedoch überlagert von einer zivilisationskritischen Einstellung, für die Nietzsche einer der entscheidenden Stichwortgeber war. Ich nenne sie die „heroische Moderne“. Als ihren Grundzug betrachte ich die Einsicht, dass der geschichtsphilosophische Synergismus eines Hegel nicht mehr gültig ist. Die Geschichte hilft nicht mehr mit, ist keine „List der Vernunft“ hinter unserem Rücken; alles was getan werden kann, muss gegen sie durchgesetzt werden. Dafür braucht man keine Menschen, sondern über-menschliche Kräfte. Das war die Zeit der „Heroischen