so gewollt. Bedenken dieser Art ist der dritte Abschnitt der Textsammlung gewidmet.
Er beginnt mit einem verwilderten Aufsatz, der mit Nietzsche einsetzt. Vom Nutzen und Nachteil des Vergessens für die Geschichte. In ihm überlagern sich geschichtsphilosophische Erwägungen mit Forschungen zur Geschichte des (deutschen) Gewissens.39 Nietzsche variiert zum Lob des Vergessens den Satz Goethes, der Handelnde sei immer gewissenlos. Nach diesem Befund dürfte die politische Handlungsfähigkeit nicht zu viel Wissen und Gewissen haben – sonst wird sie gelähmt. Ist dieser Satz heute nicht zeitgemäß? Dieser Frage stellt der Text ein Lob des Erinnerns entgegen – um dann in einem Exkurs zum Deutschen Gewissen den „Aufbruch in das transmoralische Gewissen“ zu beschreiben – ein Terminus von Paul Tillich, der jenseits seiner intendierten Bedeutung mir brauchbar scheint für die Darstellung der deutschen Befindlichkeit in den 2oer/3oer Jahren. Ein Vergleich zwischen den Endsituationen der beiden Weltkriege schließt diese Überlegungen ab. Max Scheler konnte 1918 noch von „Reue und Wiedergeburt“ sprechen – Karl Jaspers in seinen Heidelberger Vorlesungen über die Schuldfrage vom Wintersemester 1945/46 kann das nicht mehr. Seither leben die Deutschen mit einem zerrissenen Selbstbewusstsein, auch wenn sie immer wieder versuchen, es zu flicken. Und sie stehen vor der Aufgabe, vor dem Hintergrund dieses Gewissens dennoch politisch zu handeln. Eine feine psychologische Beobachtung Nietzsches zeigt die Schwierigkeiten mit der zerrissenen Identität: „‚Das habe ich gethan‘ sagt mein Gedächtnis. ‚Das kann ich nicht gethan haben‘ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – giebt das Gedächtnis nach.“
Der nachfolgende Aufsatz „Gedächtniskultur“ und Geschichtsschreibung ist noch nicht zu Ende gedacht; er endet mit einer Frage. Einmal geht es um die Artikulierung eines Unbehagens an der ausufernden „Gedächtniskultur“, in der sich politisch geforderte Korrektheit mit dem Kunstbetrieb verbündet hat. Dabei heraus kommen Denkmäler als politische Allegorien, in denen das Design-arsenal einer epigonalen Moderne zum halb-verrätselten Träger einer Sinndeutung wird, die der Betrachter schon im Voraus weiß. Wo entsteht hier historische Einsicht? Es wirkt eher wie das Ritual einer Selbstbestätigung. Wäre nicht eine Rückkehr zu einer kritischen Geschichtsschreibung der zwar beschwerliche, aber einzig gangbare Weg? Anhand des Buches „Zachor. Erinnere Dich!“ von Yosef Hayim Yerushalmi werden diese Spannungen zwischen Geschichtsschreibung und kulturellem „Gedächtnis“ aus jüdischer Sicht beschrieben. Denn sobald Geschichtsschreibung – frei nach Nietzsche – dem Leben dienen soll, schleichen sich Mythen ein. Kritische Historiker hingegen, die sich den Mythen verweigern, können eine umfassende Sinnstiftung nicht bieten, es bleibt, wie Yerushalmi konstatiert hatte, ein Unbehagen in der modernen Geschichtsschreibung. Nun ist jedoch keine Geschichtsdarstellung ganz frei von solchen Bezügen; sie schleichen sich ein über die „Wertbeziehung“ zum einen, oder über „Geschichtsphilosophie und Geschichtstheologie“ zum andern. Nimmt man den ersten Ansatz, dem faktisch die Mehrzahl der Historiker folgt, dann stellen sich zwei Probleme. Zum einen sollen direkte politische „Werturteile“ ausgeklammert bleiben. Dieser Fall ist an einem krassen Beispiel anhand einer Schrift von Ernst Nolte durchgespielt. Wichtiger ist aber das andere von Max Weber hinterlassene Dilemma. Aus der Perspektive seines „Objektivitätsaufsatzes“ von 1904 sind praktisch alle Wertbezüge gleichwertig. Das würde bedeuten, dass das gesamte politischkulturelle Wertspektrum von rechts bis links gleichberechtigt zum Ausgangspunkt des Herangehens an das historische Material werden kann. Natürlich gibt es ein gewisses Vetorecht der Quellen und es gibt den Punkt, an dem eine Darstellung in einseitige Geschichtsklitterung umschlägt. Es gibt aber auch eine breite Grauzone, denn die Quellen lassen zwar nicht alles, aber doch vieles mit sich machen. Meine Überlegung war: kann man theoretisch eine Hierarchie unter den Wertbeziehungen begründen? Das läuft auf die Frage hinaus: Wer darf legitimerweise wen kritisieren? Die in diesem Text nur erst angedeutete Antwort wäre es, eine Abstufung der Wertbeziehungen nach dem Maße zu begründen, in dem historische Mythen in sie eingegangen sind. Dieser Vorschlag folgt einem Hinweis Ernst Cassirers, der davor gewarnt hatte auf Stimmen zu hören, die zwischen Mythos und Geschichte keine klare Abgrenzung mehr machen.
Leider ist die Problemlage jedoch komplexer. Mit dem Schwinden der geschichtsphilosophischen Sinnstiftung ist eine Leerstelle entstanden, in die wieder Geschichtstheologie eingedrungen ist. Man kann sich das an den Thesen Über den Begriff der Geschichte von Walter Benjamin verdeutlichen. Mein Befund hinsichtlich der gegenwärtigen „Gedächtniskultur“ wäre es nun, dass aus Denkfiguren dieser Art heute ein theoretisch diffuses Mischgebilde entstanden ist, in dem bestimmte Wertbeziehungen quasi-theologisch überhöht werden. Ich habe anhand der Kritik Peter Novicks an der These von der „Einzigartigkeit“ der Vernichtung der europäischen Juden darauf verwiesen. Hält man sich an den Satz Kants: „Der kritische Weg ist allein noch offen“, dann müssen neue Fragen in die wissenschaftliche Arbeit am Holocaust eingebracht werden; sonst besteht die Gefahr, dass das „Eingedenken“ zum Ritual erstarrt. Es gibt eine bedenkenswerte Bemerkung von Paul Ricœur, an die man anknüpfen könnte. Auch sie fällt in Auseinandersetzung mit dem Buch Yerushalmis – und mit Hegel.
Vom Historiker werde moralische Neutralität erwartet, so etwa wie François Furet die bloß verherrlichende Geschichtsschreibung der Französischen Revolution kritisiert habe. „Doch wenn es um Ereignisse von größerer Nähe geht wie etwa Auschwitz, scheint eine moralische Neutralisierung, wie sie vielleicht angebracht ist, wenn man eine bestimmte Vergangenheit durch ihre distanzierte Betrachtung besser begreifen und erklären will, weder möglich noch wünschenswert zu sein. Hier erschallt vielmehr das biblische Losungswort aus dem Fünften Buch Moses: Zachor! (erinnere Dich!), das nicht zwangsläufig mit einer Aufforderung zur Geschichtsschreibung identisch ist.“ Aus dem Buch Yerushalmis hebt Ricœur hervor, „daß die Juden jahrhundertelang die wissenschaftliche Geschichtsschreibung ignorieren konnten, sofern sie nur dem „erinnere Dich!“ (….) treu blieben, und daß ihr Zugang zur historischen Forschung im Zeitalter der Aufklärung in weitem Maße eine Folge der Assimilation an die nichtjüdische Kultur war, die sie umgab.“ Wenn man dennoch davon ausgehe, dass das „Heilige“ eine unausrottbare Dimension des historischen Sinns bleibe, ergeben sich für Ricœur zwei Denkwege. Zum einen unterlegt er Hegels aufblickende Verherrlichung der welthistorischen Individuen mit Rudolf Ottos „tremendum fascinosum“.40
Es gebe aber auch ein tremendum horrendum. „Das Entsetzen ist das Gegenbild der Bewunderung, wie der Abscheu das der Verehrung. Das Entsetzen wird von Ereignissen verursacht, die man nie vergessen darf. In ihm findet die Geschichte der Opfer ihren letzten moralischen Beweggrund. (….) Die Opfer von Auschwitz vor allem sind es, die in unserem Gedächtnis alle Opfer der Geschichte vertreten. In ihnen, den Opfern, zeigt sich jene Kehrseite der Geschichte, die keine List der Vernunft zu rechtfertigen vermag und die vielmehr den Skandal jeder Theodizee der Geschichte offenbart.“41 Bewunderung wie Entsetzen aber beziehe sich jeweils auf ein Einmaliges in der Geschichte; beide erfüllen eine Individualisierungsfunktion. Damit entziehe sich das Entsetzen der kausalen Erklärung, die Zusammenhänge herstellt. „Der Konflikt zwischen der Erklärung, die Zusammenhänge herstellt, und dem Entsetzen, das vereinzelt, erreicht hier seinen Höhepunkt, und doch darf dieser latente Konflikt nicht zu einer ruinösen Dichotomie führen zwischen einer Geschichte, die das Ereignis in der Erklärung auflöste, und einer rein emotionalen Entgegnung darauf, die einen davon dispensiert, das Undenkbare zu denken.“ Was er hier beschreibt ist nichts anderes, als der Konflikt zwischen Gedächtniskultur und Geschichtsschreibung. Ricœur bemüht sich, einen dialektischen Zusammenhang zwischen Erklärung und Entsetzen herzustellen: „Je mehr wir historisch erklären, um so entrüsteter sind wir; je mehr uns das Entsetzen faßt, um so mehr versuchen wir zu begreifen.“ Den Stand der gegenwärtigen Literatur zum Holocaust sieht er noch jenseits dieser Dialektik: „Entweder das Zählen der Leichen oder der Bericht der Opfer.“ Zwischen beiden – das ist seine theoretische Forderung – müsste eine schwierige, wenn nicht gar unmögliche historische Erklärung angesiedelt sein, die den Regeln der singulären Kausalzurechnung gehorchte. Er fordert ein negatives Epos der Opfer, so wie es einmal ein Epos der Helden gegeben habe, denn das Leiden der Opfer schreie „weniger nach Rache als danach, erzählt zu werden.“42
In diese wissenschaftliche Geschichtsschreibung, die zugleich nicht gedächtnislos