Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. III, a.a.O., 1991, S. 303 f.
42Ricœur, ebd., S. 304 ff.
43Ricœur, ebd., S. 344 f.
44Ricœur, ebd., S. 409.
45„Ein Rhizom hat weder Anfang noch Ende, es ist immer in der Mitte, zwischen den Dingen, ein Zwischenstück, Intermezzo.“ Gilles Deleuze/ Félix Guattari: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 41.
46Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/New York 2002, S. 394.
1. Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie
Plädoyer für eine geschichtsphilosophisch angeleitete Kulturgeschichte
I. Eine bedrohte Erfahrung
Angesprochen ist in diesen Überlegungen nicht primär die philosophische Befragung der Geschichte nach dem Untergang der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie von Kant bis Hegel, nicht die Hinwendung zu einem Nachdenken über Geschichte in jenem Zeitraum, den Herbert Schnädelbach in seiner Studie von 1974 als „Geschichtsphilosophie nach Hegel“ bezeichnet hat. Gemeint ist eine Rettung der Einsicht der klassischen Geschichtsphilosophie aus der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert. Denn diese vermeintlich untergegangene Geschichtsphilosophie ist nicht mit dem Hinweis auf ihre Teleologie zu kritisieren. Hinter der Teleologie verbirgt sich ein nach wie vor ungelöstes Problem, das der Nicht-Verfügbarkeit der Geschichte. Ein Blick auf Immanuel Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ aus dem Jahre 1784 erhellt die Ausgangssituation. Kant beginnt mit dem philosophischen Unwillen bei Betrachtung der Historie, dass die Menschen nicht wie vernünftige Weltbürger in ihrer Geschichte „nach einem verabredeten Plane im Ganzen“ verfahren. Die von ihm im Rückgriff auf eine „Teleologie in praktischer Absicht“ eingeführten Begriffe wie „Naturabsicht“ oder „Vorsehung“ zeigen nur, dass wir es mit dem Versuch einer Ordnungsstiftung im Bereich des Nicht-Planbaren zu tun haben. Die spezifischen Denkfiguren der Geschichtsphilosophie, so wie sie sich seit etwa 1780 herausbilden, sind eine erste wissenschaftliche Reaktion auf die Erfahrung, dass die Menschen, bei aller wachsender Herrschaft über die Natur sich in einen dynamisierten Geschichtsprozess hineingestellt sehen, den sie nicht bewusst „machen“ können. Ihre Lösungsversuche zeigen, dass sie dem objektiven Prozess eine „Vorsehung“ oder eine „Vernunft“ unterlegen, z.T. noch in der Übertragung der am Ende des Jahrhunderts schon in die Jahre gekommenen Physikotheologie. Ein auf der Moralphilosophie aufruhender „Gott“ soll zurechtbringen, wozu die Menschen aus eigener Kraft nicht in der Lage sind: Ihrer Geschichte einen der Moral zuträglichen Ausgang zu sichern.
Es ist dann leicht zu zeigen, dass Kant im Vierten Satz der „Idee“ eine teleologische Überformung von vermeintlichen „Mitteln“ liefert, und den gesellschaftlichen „Antagonismus“, der für sich selbst betrachtet auch zu ganz anderen Konsequenzen führen könnte, einer gnädigen „Naturabsicht“ unterstellt. Es geht hier aber nicht um Kants Antwort auf die Form der Geschichte, sondern um diese Form selbst. Und die besagt, dass der Mensch nicht Herr seiner eigenen historischen Entwicklung ist. Für den homo faber stellt diese Einsicht eine nicht zu unterschätzende Kränkung dar.1
Diese kränkende Einsicht wird auch gerne unterschlagen. Wer die Aufklärung nur als eine Fortschreibung der im 17. Jahrhundert einsetzenden Tradition der humanen Selbstbehauptung begreift, wird für diese genuine Einsicht des späten 18. Jahrhunderts blind bleiben. „Innerhalb der Geschichte der Neuzeit, besser: als Geschichte des neuzeitlichen Menschentums, versucht der Mensch überall und jedesmal aus sich selbst sich selbst als die Mitte und das Maß in die Herrschaftsstellung zu bringen, und d.h. deren Sicherung zu betreiben.“2 Wer so argumentiert, unterschlägt im Gefolge von Nietzsches Unterschätzung des 18. Jahrhunderts dessen Innovationen auf dem Gebiet des Geschichtsdenkens. Es ist eben nicht der Mensch „Mitte und Maß“ in der Geschichte des neuzeitlichen „Menschentums“, sondern er muss sich damit begnügen, zum Objekt eines über ihn hinweg prozessierenden Subjekts der „Geschichte selbst“ zu werden. Allerdings hat er dieses Subjekt libidinös besetzt; es soll mithelfen das zu realisieren, was die Menschen aus eigenem bewussten Handeln nicht herstellen können. Bei Hegel verlässt die Geschichtsphilosophie ihren bloß hypothetischen Charakter in praktischer Absicht und scheint zu einem wirklichen Wissen werden zu können, das diese Unterwerfung unter eine „List der Vernunft“ begreifbar macht; nichts Geringeres als eine dynamisierte Theodizee bietet Hegel seinen Hörern an.3 Von solchen Ansprüchen ist Kant weit entfernt; im Grunde ist seine Geschichtsphilosophie nur eine Hilfskonstruktion für die Moral – damit sie an der Welt nicht verzweifelt.
Teleologie also überlagert nur die Erfahrung eines Prozesses, der sich jenseits der Intentionen der Menschen bewegt, wenngleich er aus ihrem Handeln resultierte. Kant hat diese Grundkonstellation der Projektion von humanen Zielen auf die Geschichte bei gleichzeitiger Unfähigkeit, sie unmittelbar zu „machen“, gültig festgehalten: „Denn von ihr, oder vielmehr (weil höchste Weisheit zu Vollendung dieses Zwecks erfordert wird) von der Vorsehung allein können wir einen Erfolg erwarten, der aufs Ganze und von da auf die Theile geht, da im Gegentheil die Menschen mit ihren Entwürfen nur von den Theilen ausgehen, wohl gar nur bei ihnen stehen bleiben und aufs Ganze als ein solches, welches für sie zu groß ist, zwar ihre Ideen, aber nicht ihren Einfluß erstrecken können; vornehmlich da sie, in ihren Entwürfen einander widerwärtig, sich aus eigenem freien Vorsatz schwerlich dazu vereinigen würden.“4 Es spricht aus der Erfahrung nichts dafür, dass sich an dieser Grundkonstellation seither irgend etwas geändert hätte.
II. Trauerarbeit an Hegel
Es gibt in der neu wieder erwachten Beschäftigung mit „Geschichtsphilosophie“ eine Tendenz, hinter Hegel auf Kant zurückzugehen.5Paul Ricœur hat in seinem Werk „Zeit und Erzählung“ diese Tendenz so umrissen: Es ist gerade die Trauer um das verschwundene absolute Wissen, das uns zu Kant zurückführt. Man musste zuerst Hegel gefolgt sein, um diesen Weg zurück gehen zu können. „Denn welcher Leser Hegels, der sich einmal wie wir von der Macht seines Denkens hat verführen lassen, verspürt nicht den Verzicht auf Hegel als eine Wunde, die im Gegensatz zu denen des absoluten Geistes eben nicht verheilt? Diesem Leser, so er nicht einer matten Sehnsucht verfallen will, ist der Mut zur Trauerarbeit zu wünschen.“6 Was ist Trauerarbeit? Trauerarbeit ist ein „intrapsychischer Vorgang, der auf den Verlust eines Beziehungsobjekts folgt und wodurch es dem Subjekt gelingt, sich progressiv von diesem abzulösen“. Freud präzisiert diesen Vorgang so: „Jede einzelne der Erinnerungen und Erwartungen, in denen die Libido an das Objekt geknüpft war, wird eingestellt, überbesetzt und an ihr die Lösung der Libido vollzogen.“7 Für unseren Fall bedeutet das nichts anderes, als eine Kritik der einzelnen Kategorien der Geschichtsphilosophie. Sie müssen sich befragen lassen, welche Hoffnungen sie erweckten, welche Enttäuschungen mit ihnen verbunden waren, schließlich, wie man sich „progressiv von ihnen ablöst“ – um ein kritisches Verhältnis zu ihnen zu gewinnen.8 Eine partielle Lektüre des sechsten Kapitels des dritten Bandes aus „Zeit und Erzählung“ soll den Übergang in diese Aufgabenstellung bilden.
Ricœur lässt die „Hegelsche Versuchung“ damit beginnen, dass er an die Stelle der vormaligen „Universalgeschichte“ die „Weltgeschichte“ setzt und seine Zuhörer mit einer philosophischen Zumutung konfrontiert. Nachdem er in pädagogischer Absicht die „Arten der Geschichtsschreibung“