eines historischen Prozesses, der sich blind aber dynamisch in die Zukunft entwirft. Insofern stehen selbst diese von Marx hinterlassenen gewaltigen Ruinen mit ihrem strengen Formbegriff – dem der Wertformen – quer zu allen Vorstellung einer „postmodernen“ Geschichtsauffassung, der Geschichte zu einer „riesigen formlosen Masse“ geworden ist, durch die sich jeder Historiker gleichsam „privat“ hindurchgraben kann.20 Mit anderen Worten: Man wird den Weltmarkt und seine das Einzelne allegorisierende Macht nicht dadurch los, dass man sich beleidigt von ihm abwendet. Vor diesem Hintergrund ist nach dem kritischen Umgang mit aller – wie Lukács es einmal genannt hat – „geschichtsphilosophischen Zeichendeuterei“ zu fragen.21
Mit dem Verzicht auf Teleologie bei Marx ist etwas anderes gewonnen als mit dem Verzicht auf Teleologie bei Hegel. Hier ist die Idee einer „absoluten Vermittlung von Geschichte und Wahrheit“ zuschanden gekommen;22 bei Marx bleibt hinter der Überlagerung des kapitalistischen Verwertungsprozesses mit einem sozialistischen Ziel eben dieser Prozess ohne Wahrheit übrig. Erledigt ist allerdings dann die Vorstellung, dieses Prozesses jemals Herr werden zu können – ein Herrentraum, den Nietzsche und Heidegger in ihrer Weise noch einmal geträumt haben. Nach 200 Jahren schlechter Erfahrung mit den Versuchen, Geschichte als Ganze vermeintlich human zu gestalten, könnte sich die Menschheit allmählich einmal daran gewöhnen, mit einer nichtmachbaren Geschichte zu leben, ohne dies als Kränkung des homo faber zu empfinden. Was bleibt, ist das Bedürfnis, sich in dieser Geschichte zu „orientieren“; dafür sind aber flexiblere Horizonte hinreichend, als es bislang scheinen konnte.
Für einen Versuch, Kants Theorie des „Geschichtszeichens“ umzudenken, scheint es mir notwendig zu sein, auf die beiden von Reinhart Koselleck entwickelten, bei Paul Ricœur diskutierten Kategorien Erfahrungsraum und Erwartungshorizont zurückzugehen. In Ricœurs Lektüre kommt dem über Marx eingeführten Problem der Nicht-Machbarkeit der Geschichte ein etwas größeres Gewicht zu als bei Koselleck. Er selbst drückt das so aus: „Das Thema der Beherrschbarkeit der Geschichte beruht also auf dem fundamentalen Verkennen jener andren Seite des Geschichtsdenkens (…), nämlich der Tatsache, daß wir von der Geschichte affiziert werden und uns durch die Geschichte, die wir machen, selbst affizieren.“23 Betrachtet man in diesem Rahmen das Sich-Orientieren in der Geschichte weiterhin von der Möglichkeit abhängig, ihre „Zeichen“ lesen zu können, und führt man als vermittelnde Kategorie zwischen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont den Symbolbegriff Ernst Cassirers ein, dann zeigt sich, dass ein Wahrnehmungserlebnis als sinnliches Erlebnis, immer schon einen Bedeutungsüberschuss mit sich trägt, der das einzelne Wahrnehmungsphänomen auf ein „Sinn-Ganzes“ bezieht. Erfahrungsraum und Erwartungshorizont schaffen symbolische Formen der Weltauslegung, die dann selbst wieder als „transzendentale“ Vorbedingungen neuer Wahrnehmung gelten können. Wie sich an Cassirers Auseinandersetzung mit Simmel zeigt, hätten wir es dann mit symbolischen Formen oder Zeichen zu tun, die keinen historischen Horizont endgültig abschließen, sondern die dazu geeignet sind, Verfestigungen auch wieder aufzubrechen. Eine unilinear-teleologische Geschichtsauffassung ist im Rahmen dieses Denkens nicht mehr möglich. Die antizipierten Erwartungshorizonte und die aus ihnen durch Rückprojektion auf Ereignisse oder Geschichtsformen gewonnenen „Geschichtszeichen“ werden versuchsweise aufgebaut; sie können sich pluralistisch selbst kritisieren.
Problematisch bei Cassirer bleibt, dass er zur „unbewussten Produktion“ von Geschichte keinen rechten Zugang zu haben scheint. Die am weitesten vorgeschobene Position zur „Dechiffrierung“ von Dingwelten, die zugleich kapitalistisch produzierte Warenwelten sind, hat nach wie vor Walter Benjamin geliefert; insofern besteht überhaupt kein Grund, sich von seinem Denken abzuwenden oder es gegen irgendwelche Gerätschaften aus postmodernen Quincaillerien einzutauschen. Wenn die Dinge ihre „surrealistische“ Miene aufsetzen, besteht ein Moment der Erkennbarkeit. Jetzt ist nicht ein sinnhafter Erwartungs-Horizont die Voraussetzung für eine Rückprojektion auf den Erfahrungsraum der Gegenwart, die Wahrnehmung schließt sich auch nicht zu einer gerundeten „symbolischen Form“ zusammen, sondern innerhalb eines sinnlosen Ganzen tauchen Konfigurationen auf, die als Ausdruck unbewusster Ängste oder Vorahnungen im Umgang mit dem Nicht-Machbaren gelesen werden können. Der Gebrauchswert in seiner bestimmten Form – das Design der Waren – wird vom Wertcharakter gleichsam zensiert; was entsteht, ist ein entstellter Gebrauchswert, der aber in seiner Entstellung zum „Zeichen der Zeit“ werden kann. Benjamin benutzte dafür den Begriff „Phantasmagorie“. Die Entzifferung der Waren als Phantasmagorien der träumenden – ihre Geschichte unbewußt verrichtenden Menschen, das wäre das Benjaminsche Äquivalent zum Kantischen „Geschichtszeichen.“24 Man kann die Genese der klassischen deutschen Geschichtsphilosophie als ihre Geburt aus der Frage nach dem Geschichtszeichen verstehen; war damit ihr Sündenfall verknüpft, so kann die Rückgängigmachung dieses Sündenfalls wiederum nur bei der Frage nach der Orientierung in der Geschichte ansetzen.
IV. Geschichtsphilosophie und Kulturgeschichte
Nun bin ich kein „Geschichtsphilosoph“; ich betreibe die Aufarbeitung ihrer Einsichten nicht als Selbstzweck. Es geht mir um eine neue, von geschichtsphilosophischen Fragestellungen angeleitete Kulturgeschichte. „Kulturgeschichte“ hat im Rahmen der zünftigen Geschichtswissenschaft nicht unbedingt einen guten Klang; das hängt zusammen mit ihrer Entstehungsgeschichte als Betätigungsfeld für Außenseiter, das hängt auch damit zusammen – Jacob Burckhardt bildet das beste Beispiel dafür – dass sie, bei aller Kritik an Hegel, den Kontakt zur Geschichtsphilosophie nie ganz hat abreißen lassen. Die zünftige Geschichtswissenschaft hingegen hat im Prozess ihrer Professionalisierung im 19. Jahrhundert das Band zwischen sich und der Geschichtsphilosophie zerschnitten. Was auf den ersten Blick wie eine Befreiung aus dem dialektischen Streckbett des Weltgeistes aussieht, musste aber teuer bezahlt werden, denn in der Folge hat sich die Geschichtswissenschaft dem bloß politischen Spektrum bei der Letztverankerung ihrer Fragestellungen ausgeliefert. Sie ist sozusagen vom Niveau des Weltgeistes auf das Niveau der Volksgeister hinabgestiegen – und sie hat es gerne getan. Fragen nach der Verlaufsform der Geschichte als Ganzer wurden als unwissenschaftlich ausgeschieden und damit auch die Einsicht in das Unterworfensein unter den nicht-machbaren Prozess. Ganz im Gegenteil: Das vermeintliche historische Machen-Können auf dem politischen Felde beherrschte das deutsche Denken im Zeitalter des Werdens des Nationalstaates – und die Historiker machten begeistert mit.
Seither sind die Geschichtsschreiber – Ausnahmen bestätigen die Regel – in ihrer Mehrzahl verhinderte Politiker, deren Weltbild in den Wertvorgaben der politischen Richtungen changiert. Hayden White hat diesen Vorgang treffend gekennzeichnet: „Die ‚Theorie‘, auf der die ‚Verwissenschaftlichung‘ beruhte, war nichts anderes als die Ideologie des mittleren Bereichs im sozialen Spektrum, den einerseits die Konservativen, andererseits die Liberalen repräsentierten.“25 Diese Verankerung an Wertvorgaben ist im Verfahren der Rickert-Weberschen „Wertbeziehung“ zur Methode der Historiker erhoben worden. Ganz gleich, ob sie diese Grundlagen explizit der Untersuchung voranstellen, oder ob der Leser sie aus dem Tonfall der Narration erschließen darf – über diese kulturell/politische Letztverankerung ihres Fragens ist die Geschichtswissenschaft nicht hinausgekommen: „Was Gegenstand der Untersuchung wird, und wie weit diese Untersuchung sich in die Unendlichkeit der Kausalzusammenhänge erstreckt, das bestimmen die den Forscher und seine Zeit beherrschenden Wertideen.“26
Gegen dieses Verfahren ist prima facie gar nichts einzuwenden; es gilt als die methodische Grundlage einer soliden Geschichtswissenschaft. „Objektivität“ ist nur in Anführungszeichen zu haben, und die Pluralität der Wertbeziehungen garantiert eine Überprüfung der Resultate im wissenschaftlichen Streit. Allerdings gibt es – auch und gerade bei Max Weber – ein kleines Problem. Ab und zu tauchen Begriffe auf, wie etwa der des „Schicksals“, den man bei einem so rationalen Denker gar nicht erwartet hätte, Begriffe, die ich gerne als Hintergrundmetaphern bezeichnen würde. Denn über den Werten waltet noch etwas anderes. In „Wissenschaft als Beruf“ äußert sich Weber 1919 ganz zeitgemäß zu den Wertgrundlagen der Gegner des großen Krieges: „Wie man es machen will, ‚wissenschaftlich‘ zu entscheiden