Zwar ist das menschliche Aufbegehren gegen diese Negation der freien Bestimmung des Menschen in der Geschichte immer wieder wirksam oder formgebend – aber eben nicht so, wie es die Akteure intendieren.
Kittsteiner proklamierte die „Unhintergehbarkeit der geschichtsphilosophischen Erfahrung“.12 Die ursprüngliche, aber unmittelbar überspielte und später vergessene Erkenntnis der klassischen geschichtsphilosophischen Entwürfe sei die Einsicht in die Unverfügbarkeit der Geschichte.13 Allerdings hätten die Geschichtsphilosophen stets höhere Prinzipien konstruiert, Listen der Vernunft, unsichtbare Hände, Weltgeister oder fallende Profitraten, die auf wunderbare Weise den Weltenlauf zu einem guten Ende bringen sollten: „Den ungeschützten Anblick der Geschichte kann man nicht ertragen.“14 Die an sich berechtigte Kritik an der Geschichtsphilosophie habe sich an diesen teleologischen Konstruktionen abgearbeitet, dabei aber die Unverfügbarkeit der Geschichte und das, was das historische Geschehen in Bewegung hält, aus den Augen verloren. Dieser „machthabende Geschichtsprozess spukt seither in unbegriffenen Hintergrundmetaphern durch die Schriften der Historiker und Philosophen.“15 Wer Geschichtsphilosophien als belanglos abtut, läuft Gefahr, ihnen selbst wieder aufzusitzen. Die uneingestandenen Teleologien so vieler Geschichtsdarstellungen zeigen es. Eine Geschichtsschreibung, wie sie Kittsteiner konzipierte, stellte hingegen die Geschichtsvorstellungen der Menschen und deren Auswirkungen selbst in den Fokus der Untersuchung. Von einem Fallstrick wird das Geschichtsdenken zum Gegenstand einer „geschichtsphilosophisch angeleiteten Kulturgeschichte“.16
Die Wissenschaft von der Geschichte und die Philosophien ihres Verlaufs waren für Kittsteiner nicht mehr zu trennen. Diese Haltung gegenüber ‚der Geschichte‘ war geprägt von der eigenen biographischen Erfahrung: „Clio dichtet nicht – sie bezieht aber den Zusammenhang der Geschichte aus geschichts-philosophischen Entwürfen. Die verändern sich mit den historischen Erfahrungen der jeweiligen Epochen; sie haben ihre Zeit, sie versinken – und tauchen wieder auf. Man muß den Aufstieg und Niedergang mehrerer solcher Denkmodelle miterlebt haben, um zu einer gewissen Skepsis zu kommen. Resultat dieser Skepsis ist es, das, was unvereinbar miteinander scheint, nun nebeneinander gelten zu lassen.“17 Das ist nicht mit gleichgültigem Relativismus zu verwechseln. Denn es war die „Frage nach dem Verhältnis von Gewissen und Geschichte“, die ihn antrieb. „Es ist das Bewußtsein, mit allem Denken und Handeln in einen historischen Prozeß verstrickt zu sein, dessen Vergangenheit, Gegenwart und möglichen Fortgang man nicht ohne Gewissensbedenken betrachten kann.“18
Kittsteiner betonte wiederholt dieses Bewusstsein, als Mensch in die historische Erfahrung selbst eingebunden zu sein. Das Bild vom überhistorischen Geschichtsphilosophen war ihm, wie das des unbeteiligt-objektiven Wissenschaftlers, eine Schimäre. Zeit und Ort bestimmen die Erfahrung und das Denken aller Menschen – ob sie über Geschichte nachdenken, oder nicht. „Es entsteht beim Schreiben der Geschichte eine geschichtsphilosophisch gebrochene, dialektische Hermeneutik. Ich verstehe nicht nur die Intentionen der Akteure, ich verstehe auch deren Mißlingen; ich verstehe nicht nur den Ausdruck der Formgebenden, ich ‚verstehe‘ auch den Nexus der Unverfügbarkeit. Historische Einsicht mündet in ein theoretisch distanziertes Mitleiden.“19 Vor diesem Hintergrund leitete Kittsteiner – am nicht beliebigen Beispiel seines Gewissens-Buches – seine eigene Haltung gegenüber dem Geschehen und den daraus resultierenden Stil der Darstellung ab: „Eine ‚Geschichte des Gewissens‘ ist dann der Nachvollzug des Scheiterns von Gewissens-Entwürfen bei gleichzeitiger Umformulierung von dessen Normen im Übergang von einem theologischen zu einem philosophischen Diskurs. Wer das im Längsschnitt einmal nachvollzogen hat, kann einer gewissen Ironie als Stilmittel nicht entraten.“20
Auch ging es Kittsteiner nicht darum, welchen Stellenwert die von ihm behandelten ‚Geschichtsdenker‘ im kulturellen Gedächtnis, in der Hierarchie der Erinnerung einnehmen. Er befasste sich mit namhaften Philosophen von Kant über Hegel und Marx bis Heidegger, aber ebenso mit vergessenen, verschütteten oder gar verrufenen Autoren. So nehmen Karl Heussi und Oswald Spengler in seinem Werk tragende Rollen ein. Daneben stehen in Kittsteiners Texten immer auch die Zeugnisse derjenigen, die keinen großen Namen hinterlassen haben, die für niemanden schrieben als für sich selbst, oder deren Äußerungen ohne ihr Wissen aufgezeichnet und überliefert wurden: Das Tagebuch des Söldners Peter Hagedorn aus dem Dreißigjährigen Krieg in Die Stabilisierungsmoderne, dem einzig veröffentlichten Band der Deutschen Geschichte in den Stufen der Moderne, sei als Beispiel erwähnt. „Geschichts-Philosophie im weitesten Sinne ist ein Nachdenken über die Form der Geschichte.“21 Verbindungen zwischen solchen Quellen und über disziplinäre Grenzen hinweg herzustellen, ist selten. Kittsteiner verband den philosophisch geschulten Historiker mit dem Mentalitätengeschichtler.
Das Werk Kittsteiners wurde – auch dadurch, dass sein synthetisches Hauptwerk, die Zusammenführung der zahlreichen thematischen Pfade seines Denkweges, als das die Stufen der Moderne angelegt waren, Fragment geblieben ist – noch wenig wahrgenommen. Dies gibt seinen Aufsatzsammlungen eine besondere Bedeutung. Er betrachtete sie selbst als Versuchsanordnungen und Steinbruch, ja als Exposés für das Großprojekt, an dem er arbeitete. Daher hat sich in diesen drei Bänden die Essenz dessen, worum es in den Stufen der Moderne gehen sollte, erhalten.
Die Neuausgabe des umfangreichsten dieser drei Bände erfolgt zu einer Zeit, in der das Gefühl des Kontrollverlustes zum beherrschenden gesellschaftlichen Thema geworden zu sein scheint. Die Unverfügbarkeit der Geschichte scheint eigentlich kein theoretisches Konzept mehr zu sein, das irgendwie erklärungsbedürftig wäre. Oder ist es gerade in Zeiten der Verunsicherung notwendig, an vergessene Einsichten zu erinnern? Die Hybris der angeblich posthistorischen Jahre um die Jahrtausendwende ist ebenso verpufft wie der vermeintliche Triumph einer liberalen Weltordnung mit ihrem Mythos einer sich selbst optimierenden Ökonomie. Die ‚Globalisierung‘ scheint allgemein fragwürdig geworden zu sein, und wir erleben vielschichtige Aufstände gegen eine Weltanschauung, die sich selbst zum zwangsläufigen Ergebnis der Geschichte erklärt hatte, deren Verheißungen aber offenbar an Strahlkraft verloren haben. Unverstanden bleibt hier, dass es heute, wie immer schon, nur eine Weltunordnung gibt, also keine Puppenspieler greifbar sind, die man für finstere Machenschaften und Manipulationen haftbar machen könnte. Wenn man sich mit Kittsteiner klarmacht, dass hinter dem modischen Schlagwort nichts anderes steckt, als die altbekannte Logik der Kapitalverwertung, kann man sich die ‚progressiven‘ wie die ‚reaktionären‘ Illusionen abschminken: Weder steht die ‚Globalisierung‘ per se für gesellschaftlichen Fortschritt, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie oder gar Völkerverständigung, noch kann man einen umzäunten Kapitalismus ohne sie – oder gar in kontrollierter Stasis – haben. Es gibt viele neue Worte für dasselbe alte Phänomen, aber das kümmert sich nicht um unsere Ideen, Träume oder Ängste. Der Weltmarkt – „wir nennen das heute Globalisierung“22 – bringt, was man bis 2008 zu vergessen suchte, regelmäßig Krisen hervor. Doch anders als vom Geschichtsphilosophen Marx gedacht, bringt das den Prozess nicht an ein Ende. Er erzeugt Chaos und Leid, läuft aber ungerührt weiter. Mit dem Versprechen von ‚Control‘ wird im Politischen wieder gewuchert, Hasardeure inszenieren sich als ‚Große Männer‘ und Macher, die der Geschichte in die Speichen greifen können; doch das wird nicht ohne krachende Knochen abgehen. Die Gespenster der von Kittsteiner ausgemachten heroischen Moderne, in der Geschichte gewaltsam geformt werden sollte, kehren wieder. Diese Inszenierungen und Appellationen an Sehnsüchte zeigen an, wie groß die Angst vor dem Gegenteil ist – dem unerwünschten Wissen: „… man is submitted to a strange process, which is out of control.“
1Heinz-Dieter (sic!) Kittsteiner, The Sediments of Modernity. A Review of Benjamin Nelson‘s Der Ursprung der Moderne (Frankfurt: Suhrkamp, 1977), in: The Comparative Civilizations Review No. 9, Dickinson College, Carlisle 1982, S. 86–89, hier S. 87.
2In diesem Band: Zur Einführung, S. 12.
3Heinz Dieter Kittsteiner, Erinnerungen auf einer Vollversammlung, in: Daniel Becker u.