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Zerreißproben


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Perspektive: Ein liberaler Ordnungsrahmen kann die Innovations- und Wachstumsdynamik der Marktwirtschaft stärken, und zwar so, dass auch aktuell anstehende große, etwa ökologische Herausforderungen bewältigt werden.

      Literatur

      FOUCAULT, MICHEL: Die Geburt der Biopolitik. 6. Aufl. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 2006

      KOLEV, STEFAN: Neoliberale Staatsverständnisse im Vergleich. 2., erweiterte und aktualisierte Aufl. Berlin [de Gruyter] 2017

      SCHNELLENBACH, JAN: The Concept of Ordnungsökonomik: Rule-Based Economic Policy-Making from the Perspective of the Freiburg School. In: Public Choice, im Erscheinen

      SCHUMPETER, JOSEPH A.: Capitalism, Socialism and Democracy. New York [Harper] 1942

      SHU, PIAN; CLAUDIA STEINWENDER: The Impact of Trade Liberalization on Firm Productivity and Innovation. IN: LERNER, JOSH; SCOTT STERN (Hrsg.): Innovation Policy and the Economy. Bd. 19. Chicago [Chicago University Press] 2019, S. 39-68

      TOLLISON, ROBERT D.: The Economic Theory of Rent-Seeking. In: Public Choice, 152, 2012, S. 73-82

      Josef Joffe

      Hier die Woke-Aktivisten, dort der Wohlfühlstaat1

      Der liberale, also machtbegrenzte Staat wird von zwei neuen Feinden heimgesucht, die vor einer Generation nicht einmal im Albtraum aufschienen. Der eine Feind ist der weiche Totalitarismus. Vor vierzig Jahren als ›Dekonstruktion‹ in Frankreich erfunden, wanderte er nach Amerika aus, wo er zu grotesker Form aufstieg und jetzt im gesamten Westen en woke ist. ›Woke‹, etwa ›aufgewacht‹ oder ›erleuchtet‹, nennen sich jene, die überzeugt sind, es gebe eine weiße Vorherrschaft über die »Verdammten dieser Erde«, wie es in der Internationale heißt: über Frauen, Dunkelhäutige, Schwule, Fremde, Andersgläubige. Alle sind Opfer der infamen Verschwörung weißer Männer.

      Am anderen Ende kommt der Feind als guter Onkel daher. Der ist der freundliche für- und vorsorgende Staat, der sich freilich nicht erst seit Covid-19-Zeiten unaufhörlich ausbreitet. Das demokratische Gemeinwesen arrondiert seine Macht ohne Waffengeklirr und mit der stillen Duldung des demos.

      Wokeness ist im Kern Stalinismus ohne NKWD, Maoismus ohne Rote Garden. Als Ziel gilt die Erlösung von der weißen Oberherrschaft. Tatsächlich ist wokeness jedoch eine Attacke gegen das Beste im Westen: Renaissance, Aufklärung, Liberalismus.

      Die drei Säulen

      Renaissance ist Leonardo da Vinci und Galileo, Buchdruck, Mathematik und Astronomie. Nein, die Erde ist keine Scheibe, und das Universum dreht sich nicht um unseren Planeten. Nicht Kirche und Krone bestimmen das Wahre, sondern Beobachtung, Berechnung und Beweisführung. Damit sind wir bis zum E-Auto und zum Mars gekommen.

      Aufklärung ist »sapere aude« – wage zu wissen. In Kants Worten: Aufklärung ist die »Maxime, jederzeit selbst zu denken«. Nicht Priester, Potentat und Partei denken für mich. Ich muss es selber tun – Irrtum eingeschlossen. Doch enthält meine Deutung die Dauereinladung, sie regelhaft zu widerlegen. Das Wie debattiert die Philosophie seit den Vorsokratikern auf der Grundlage von Ratio und Recherche. Die Prämisse: Wahrheit gibt es, doch wird sie nicht verfügt, sondern im ewigen Disput entdeckt: durch Falsifizierung.

      Liberalismus heißt: Das Individuum ist King, der Staat nicht Herrscher, sondern Diener. Im Mittelpunkt des politischen Universums steht der Einzelne – nicht Clan und Kongregation, Volksgruppe oder Geschlecht. Die heiligen Rechte eines jeden sind nicht vom Staat verliehen, sondern »unveräußerlich«, wie es in der US-Unabhängigkeitserklärung steht, einem Klassiker des Liberalismus.

      Der freiheitliche Staat gehorcht seinen eigenen zehn Geboten, die der Herrschaft hochgetürmte Mauern setzen: Du sollst nicht Rede- und Meinungsfreiheit ächten, einen fairen Prozess verweigern, Eigentum antasten. Du sollst freie Wahlen, die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Justiz ehren. Jeder hat das Recht auf »Leben, Freiheit und das Streben nach Glück«. Das Urprinzip gilt seit der englischen Magna Charta von 1250: Der Monarch steht nicht über, sondern unter dem Gesetz.

      Woke und weiße Oberherrschaft

      Die Ideologie des ›Wokismus‹ schleift diese Bastionen – ausgerechnet in Amerika, dem gelehrigsten Kind der Aufklärung. Statt Individualität herrscht Identität. Descartes’ »Ich denke, also bin ich« gehört demnach zusammen mit dem Patriarchat in den Abfalleimer der Geschichte. Denn das Ich versinkt im Kollektiv, das durch Kultur, Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, Glaube und vor allem Opferstatus definiert wird.

      ›Wahrheit‹ gebe es nicht; sie werde ersetzt durch diverse »Regime der Wahrheiten«, die in der Macht wurzelten, predigt Michel Foucault in Die Ordnung der Dinge. Wissenschaft sei bloß ein »Sprachspiel«, wähnt Jean-François Lyotard. Wissen ist ein Konstrukt, das die Mächtigen erfunden haben, um den Rest zu versklaven.

      Wissen und Moral sind nur für diese oder jene Kultur verbindlich. Es tobt der machtbasierte Relativismus. Alles ist einerlei: ob objektiv oder subjektiv, Realität oder Vorstellung – es gehe allein um den »strategischen Nutzen« einer Theorie, doziert Lyotard. Macht ist die Karte, die alle anderen sticht. Da gehen sie dahin: Renaissance, Aufklärung und all die toten weißen Männer und ihre Erfindungen.

      Der Unterschied zum klassischen Totalitarismus? Keine Geheimpolizei, kein Gulag. Für Goodthink und Newspeak sorgt die Gesellschaft selber – genauer: eine deutungshoheitliche Klasse, die über die kulturellen »Produktionsmittel« verfügt und die »Kommandohöhen der Kultur« besetzt, um von Marx und Lenin zu borgen: Universitäten, Medien, Stiftungen, Schulen, Künste, ja mittlerweile auch Vorstandsetagen.

      Warum diese Kulturrevolution so schnell so erfolgreich war, mögen künftige Historiker erklären. Heute gilt, dass ›Falschdenk‹ und ›Falschsprech‹ Menschen und Karrieren vernichten – ohne fairen Prozess. Die Anklage ist schon Beweis genug. Inzwischen sorgt sich selbst ein Linksliberaler wie Barack Obama. »Diese Idee von woke – hört endlich auf damit. Die Welt ist unordentlich, zweideutig.«

      Da war er schon nicht mehr Präsident, doch ist der Staat längst Teil des Problems. Er hilft mit immer schärferen, auch strafbewehrten Regularien, um inakzeptables Reden und Handeln auszumerzen. Karl Marx würde sich freuen, hat er doch gelehrt, dass der Staat das willige Werkzeug der jeweils herrschenden Klasse sei.

      Der gute Für- und Vorsorgestaat

      Seine heutigen Repräsentanten sprechen etwa so: »Wir sind nicht die Zwangsvollstrecker irgendeiner Elite, denn wir verkörpern das Wohl der Nation. Wir kujonieren nicht, wir bedienen das Staatsvolk. Wir umsorgen und versorgen, wir schützen und versichern es gegen die allfälligen Risiken menschlicher Existenz«. Früher waren der Feind Krieg, Katastrophe, sozialer Abstieg, schiere materielle Not. Heute sind es Corona und Wirtschaftskollaps.

      »Haben wir euch nicht von Polio und Masern befreit«, fahren die Repräsentanten des guten Staates fort, »von Pest und Cholera? Wehren wir nicht jedwede tödliche Bedrohung ab – ob Rauchen, Klimawandel, Atomkraft oder Drogen? Und schenken wir euch nicht einen einklagbaren Anspruch nach dem anderen? Wir sind doch kein Politbüro, keine Nachgeburt der Schreckensherrschaft im 20. Jahrhundert.« Der Staat ist vielmehr