Doch dem späteren Kant verdanken wir gerade die wegweisende Definition von Mündigkeit und die Entfaltung dessen, was die Würde des einzelnen Menschen ausmacht.
Der Ausgang aus der ›selbstverschuldeten Unmündigkeit‹ war die Selbstermächtigung des Individuums, mit dem Ziel seiner Emanzipation aus kollektiven Zwängen, flankiert von Solidarität und Gemeinsinn. Die Errungenschaft aus dieser zivilisatorischen Leistung über Jahrhunderte hinweg war die Gleichheit jedes Einzelnen vor dem Recht – gerade unabhängig von Hautfarbe, ethnischer Herkunft, Geschlecht oder Religion. Diese Ideale aus der amerikanischen und französischen Revolution sind bis heute nicht vollständig eingelöst, aber immer noch treibende Kraft für die Ausweitung der Chancengerechtigkeit.
Inzwischen scheint unsere Gesellschaft allerdings auf eine frühere Stufe ihrer Entwicklung zu regredieren, weg vom Ideal des autonomen, selbstbestimmten, aufgeklärten Individuums und wachen Staatsbürgers hin zum Stammesdenken und der Hordenbildung mit gefeierten Anführern. In den sich selbst bestätigenden ›Communities‹, verstärkt durch die neuen Medien, ist ein besorgniserregender Rückfall in den Tribalismus zu beobachten. Die Gesellschaft zersplittert in immer neue Kollektive, die für ihre partikularen Gruppeninteressen kämpfen. Die fremdenfeindliche Identitätspolitik der Rechten favorisiert einen Kollektivismus, der sein Heil in der ethnischen Homogenität der Volksgemeinschaft sieht und die universalistischen Prinzipien der Aufklärung und die Idee einer offenen Gesellschaft verwirft. Antiwestlich und antiliberal geriert sich aber auch eine Identitätspolitik von links, die an den Hochschulen und im Kulturbetrieb Raum gegriffen hat.
Eigentlich begann es im Zuge der neuen sozialen Bewegungen seit den 1970er-Jahren durchaus emanzipatorisch. Mutig schlossen sich Frauen und soziale Minderheiten zusammen, um für ihre Rechte einzutreten. Sie machten auf historische und aktuelle Benachteiligungen aufmerksam und begehrten auf gegen Sexismus und Rassismus. Doch dann breitete sich mit dem Lob der kulturellen Vielfalt und Differenz ein ideologisch gewordener Multikulturalismus aus, der die freiheitlichen Errungenschaften der westlich-europäischen Zivilisation zunehmend relativierte. Immer neue soziale Gruppen, die sich als Opfer von gesellschaftlicher Diskriminierung verstanden, entwickelten ihre jeweils unterschiedlichen Opfernarrative und forderten besondere Rechte für sich. Eine regelrechte Opferkonkurrenz entstand.
Ihr jeweiliger Bezugspunkt ist eine kollektive Identität, die abgeleitet wird aus realer oder vermeintlicher Benachteiligung, der Erfahrung von Unterdrückung oder Verfolgung, die teils Jahrhunderte zurückliegen: Frauen, sexuelle Minderheiten, die LGBTQ+-Community, Migranten, ethnische und religiöse Minderheiten. Es geht dabei um Wiedergutmachung erfahrenen Leids und den Wunsch nach sozialer und kultureller Wertschätzung. Entstanden ist daraus über die Jahrzehnte eine ausgeprägte Identitätspolitik, die ausdrücklich die jeweils kollektiven religiösen, kulturellen, sexuellen und ethnischen Zugehörigkeiten ins Zentrum stellt. Nicht für Individuen werden Rechte eingefordert, sondern für die jeweiligen Opferkollektive, die Sonderrechte beanspruchen, um bisherige gesellschaftliche und historische Benachteiligung zu kompensieren. Aus den ehemals emanzipatorischen Bestrebungen sind identitäre Communties entstanden, die ihre Anliegen ideologisiert haben und einen lautstarken moralisierenden Feldzug gegen die sogenannte Mehrheitsgesellschaft führen. Wenn ständig in Täter- und Opferkategorien gedacht und agitiert wird, schwindet der gesellschaftliche Zusammenhalt immer mehr und leistet weiterer Polarisierung Vorschub.
Paradoxerweise wird der wohlfeile Antikolonialismus und Antirassismus selbst rassistisch, wenn er die ethnische Herkunft und Hautfarbe zum essenziellen, identitätsstiftenden Zugehörigkeitskriterium der von der Mehrheitsgesellschaft vorgeblich diskriminierten Opferkollektive macht. Erschreckend ist zudem die Rigidität und Wut, die den Wunsch nach Reinigung begleiten: Sprache, Geschichte, Bücher, Plätze, Erinnerung sollen von allem Bösen gesäubert werden. Das ursprüngliche Ansinnen ist totalitär geworden und wäre letztlich eine Entsorgung der Vergangenheit. Und der ›Schuldkomplex‹ (Pascal Bruckner) verleitet angesichts der Gräuel des Kolonialismus und der Sklaverei die Mehrheitsgesellschaft zu paternalistischer Überkompensation gegenüber den nachgeborenen ›Opfern‹ – angetrieben vom Wunsch, die Schuld zu tilgen. Vermeintliche Täter und vermeintliche Opfer bleiben so in einer reziproken, komplizenhaften Dynamik gefangen, die einer sachlichen Aufarbeitung der Geschichte im Wege steht.
Die Erfolgsgeschichte der westlichen Zivilisation hat uns über die Jahrhunderte den besten Lebensstandard, den wir je hatten beschert, Partizipation und Freiräume erweitert. Freilich begleitet von grauenhaften Kämpfen, Katastrophen, Diktaturen, kolonialen Verbrechen, vielen Irrtümern und Inkonsequenzen. Wir können diese widersprüchliche Geschichte nicht glattbügeln oder retuschieren. Wir müssen mit ihr leben. Denn, wie Kant feststellte: »Aus so krummem Holze, aus dem der Mensch gemacht ist, kann nicht gerades gezimmert werden.«
Wir brauchen einen lautstarken Liberalismus, um der um sich greifenden fatalen Identitätspolitik, die von Rechten und Linken gleichermaßen betrieben wird, mutig entgegenzutreten und diese zu entzaubern. Die Besinnung auf antitotalitäre Traditionen hilft uns dabei.
Thomas Petersen
Die zerrissene öffentliche Wahrnehmung des Liberalismus
Zum Hamburger Volksgut gehören die ›Klein Erna‹-Geschichten. Das sind Witze aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, überwiegend ziemlich flache Kalauer, öfter auch etwas anzüglich, die präzise den Zungenschlag ihrer Zeit wiedergeben. Sehr treffend karikieren sie den Tonfall der Menschen und ihre oft sinnlosen Sprachmarotten. Für ältere Hamburger, die noch Leute kannten, die so sprachen, wie die Figuren in den Witzen, ist das eine sehr vergnügliche Lektüre. Jüngere und vor allem Nichthamburger stehen dagegen meist fassungslos davor und fragen sich, was denn daran lustig sein soll.
Eine dieser ›Klein Erna‹-Geschichten geht wie folgt:
»Mamma trifft mal Tante Frieda auf Straße.
›Wie geht’s denn?‹ sagt Tante Frieda.
›Och‹, sagt Mamma, ›muscha, aber Pappa is so nervös, ich bin so nervös, und Klein Erna ischa auch schon so furchtbar nervös…, sag mal, Frieda, was is das eigentlich: nervös?‹«1
Den gleichen Witz könnte man auch mit dem Begriff ›liberal‹ erzählen. Ganz selbstverständlich wird das Wort verwendet, viele Menschen glauben auch, dass es auf sie selbst zutrifft, doch was es eigentlich bedeutet, ist ihnen nicht klar.
›Liberal‹ ist das, was die Amerikaner ein ›Wieselwort‹ nennen. Ein Begriff, der nicht zu fassen ist, der einem davonrennt, wenn man versucht, ihn festzuhalten. Nicht, dass er, historisch oder politikwissenschaftlich betrachtet, keine klare Bedeutung hätte, doch im Alltagsgebrauch hat er allenfalls einen sehr vagen Inhalt.
Damit steht das Wort ›liberal‹ nicht allein. Es gibt eine ganze Reihe anderer Begriffe der öffentlichen Diskussion, die zum Teil mit großen Emotionen aufgeladen sind, die ebenso wenig zu fassen sind. ›Öffentliche Meinung‹ ist so ein Fall, auch ›Freiheit‹ und ›Gleichheit‹. Bei letzterem gibt es sogar verbreitete Bedeutungen, die sich gegenseitig ausschließen,2 mit der Folge, dass bei Diskussionen um dieses Thema die Beteiligten hoffnungslos aneinander vorbeireden, ohne es zu bemerken, weil sie zwar denselben Begriff verwenden, aber etwas ganz Unterschiedliches damit meinen.
Der Bevölkerung ist die Unschärfe des Begriffes auch durchaus bewusst. Im Dezember 2020 legte das Institut für Demoskopie Allensbach in einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage eine Liste mit Begriffen vor. Die Befragten wurden gebeten anzugeben, bei welchen dieser Begriffe man ziemlich genau sagen kann, was damit gemeint ist, und bei welchen das eher unklar ist. Das Ergebnis: Eine klare Mehrheit von 56 Prozent der Befragten antwortete, bei ›liberal‹ sei eher unklar, was damit gemeint ist. Damit lag dieser Begriff noch vor so schwammigen Stichwörtern wie ›Nachhaltigkeit‹, ›Innovation‹ und – hier allerdings nur mit einem knappen Vorsprung – ›Generationengerechtigkeit‹.3
Die Mehrheit in der Bevölkerung gibt also offen zu, dass sie nicht so genau weiß, was mit dem Begriff ›liberal‹ gemeint ist. Gleichzeitig aber herrscht die Überzeugung vor, dass er etwas Positives bedeutet.