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Zerreißproben


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die allzu oft im Strudel der Polarisierung verschluckt wird: den Liberalismus. Mit Blick auf die journalistische Haltung, oder vielleicht besser: auf Berufsnormen, steht fest: der Journalismus ruht ganz unzweifelhaft auf einem liberalen Fundament. Das Grundgesetz sichert seine Freiheit, der Rechtsstaat verteidigt ihn regelmäßig gegen Anmaßungen politischer und ökonomischer Macht.

      Der von John Stuart Mill beschriebene ›Marktplatz der Ideen‹ wird im identitätspolitischen Diskurs gerne als naiv bespöttelt. Gleichwohl basieren die Berufsnormen des Journalismus, ebenso wie seine rechtliche Fundierung, auf der Erkenntnis, dass eine Gesellschaft ein System benötigt, das Ideen die Möglichkeit auf ein öffentliches Zusammentreffen und Aufeinanderprallen gibt. Der ›Marktplatz der Ideen‹ beschreibt sehr viel realistischer den unter heutigen Bedingungen möglichen Wettbewerb ums bessere Argument und die bessere Lösung, soll heißen: um den besseren Kompromiss widerstreitender Interessen, als die Habermas’sche Utopie vom ›herrschaftsfreien Diskurs‹.

      Wenige Sozialwissenschaftler haben diese Funktion so brillant analysiert wie Friedrich August von Hayek (Vorsicht: neoliberal!). Er beschrieb nicht nur die Gefahren einer kollektiven Fehlsteuerung durch die Hybris einer Anmaßung von Wissen, sondern vor allem auch die Notwendigkeit, das unendlich kleinteilig verteilte (implizite wie explizite) Wissen der Menschen durch den offenen Austausch von Ideen, aber auch Waren und Dienstleistungen gesellschaftlich fruchtbar zu machen. Auch hier spielt der Journalismus eine zentrale Rolle – indem er machtvolle Institutionen kritisiert, Transparenz herstellt, die Vielfalt der Ideen aufzeigt und kontrastiert. Als institutionalisierter Marktplatz der Ideen stellt der Journalismus ein Entmachtungsinstrument dar, ähnlich wie der Wettbewerb im ordoliberalen Verständnis gegenüber ökonomischen Akteuren.

      Der Journalismus steht also auf einem liberalen Fundament und erfüllt eine aus Sicht des Liberalismus zentrale Funktion. Liberalität im Sinne einer liberalen Grundhaltung ist dabei eine Voraussetzung. Doch wie gestaltet sich das Verhältnis von Journalismus, Liberalismus und Liberalität? Zuverlässige Daten dazu fehlen – wie gesagt – leider, doch es lässt sich spekulieren, dass zahlreiche Journalisten sich als ›liberal‹ empfinden und auch ihre Redaktion mit diesem Prädikat versehen würden. Denn liberal ist irgendwie sympathisch, weltoffen, progressiv. Wer möchte schon illiberal erscheinen? Aber worin besteht diese Liberalität? Diese Frage stellt sich insbesondere, wenn der Blick auf Spannungsverhältnisse geworfen wird, auf Sollbruchstellen und Herausforderungen individueller Freiheit. Oder eben: auf Zerreißproben.

      Wie halten es die den öffentlichen Diskurs prägenden Leitmedien mit dem Liberalismus und der Liberalität, wenn es auch um wirtschaftliche Liberalität geht? Wie, wenn ›unmoderne‹, also konservative oder traditionelle gesellschaftspolitischen Vorstellungen und Forderungen geäußert werden, die in kulturell machtvollen, großstädtischen Milieus Empörung und Verachtung auslösen? Oder gar um Neoliberalismus? Und wie, wenn im Banne einer Pandemie Kritik am Regierungshandeln aufkommt? Wie offen zeigt sich der Journalismus dann für Argumente, die sich für individuelle Freiheit und Grundrechte, für die offene, auch kontroverse Debatte und Perspektivenvielfalt einsetzen?

      Der Liberalismus ist fraglos so facettenreich, dass es den Liberalismus womöglich gar nicht gibt – auch nicht als bedrohte Spezies. Die Attribute, mit denen er versehen wird, sprechen für sich selbst und für seine Spannweite: Vom Linksliberalismus, mit dem sich gerade im Journalismus viele schmücken, bis hin zum Neoliberalismus, der – wie uns Jan Schnellenbach in diesem Band nahebringt – für zwei gegensätzliche Konzepte steht: für Ökonomen ist es ein wissenschaftlicher Ansatz der Steuerung von Wirtschaft mit möglichst geringer staatlicher Intervention, während der Neoliberalismus umgangssprachlich zum Schimpfwort verkommen ist, mit dem man von jeder beliebigen Position aus nahezu jeden diskreditieren kann, den man ein Stückchen weiter rechts von sich selbst verortet.

      Dazwischen tummeln sich – nicht minder unscharf – Wirtschaftsliberale, Marktliberale und Gesellschaftsliberale. Gemeinsam ist ihnen, dass sie auf individuelle Freiheit pochen. Aber sie haben doch ein sehr unterschiedliches Verständnis davon, welche individuellen Freiheiten konkret gemeint sind, und welche Rolle dem Staat bei der Verwirklichung und Begrenzung dieser individuellen Freiheitsrechte zukommen soll. Während der Arbeit an diesem Band traten nahezu tagtäglich kleine und größere Zerreißproben auf, die zeigen, wie wichtig es ist, über das Verhältnis von Leitmedien zu Liberalismus und Liberalität weiterhin nachzudenken – so schillernd der Liberalismus-Begriff dabei bleiben mag.

      Der vorliegende Band

      Die Reihe Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses trägt – augenzwinkernd – ihr Ziel im Namen. Sie soll Herausforderungen und Dysfunktionen des öffentlichen Diskurses diagnostizieren, Auswege aufzeigen und dabei vor allem selbst zur Debatte beitragen. Der vorliegende Band ist so gemeint, als ein Debattenbeitrag. Er bringt Analysen von Sozialwissenschaftlern und aus der journalistischen und politischen Praxis zusammen, die sich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven mit den Zerreißproben zwischen Journalismus, Liberalismus und Liberalität befassen. Alle Beiträge sind kurz gehalten, sie sollen anregen, einen Denkimpuls setzen, vielleicht auch mal Stein des Anstoßes sein und ein wenig aufregen. Alle thematisierten Zerreißproben sind Zerreißproben, weil sie politisch strittig sind. Das macht sie spannend und instruktiv, wenn das Verhältnis von Leitmedien, Liberalismus und Liberalität vertieft verstanden werden soll. Die Herausgeber setzen sich somit über alle wohlmeinenden Warnungen hinweg, wenngleich durchaus verbunden mit einem Dank an die Bedenkenträger – und sie danken ihrerseits allen Autorinnen und Autoren sowie dem Verlag, dass sie sich ›trotz alledem‹ für unser Projekt engagiert haben.

      Der Band wurde bis auf diesen Absatz der Einleitung in den Wochen vor der Bundestagswahl 2021 verfasst, ist aber jetzt – unmittelbar danach, bei Drucklegung – aktueller denn je: Nicht nur, weil die FDP in den Koalitionsverhandlungen ihre alte Rolle als Zünglein an der Waage und Matchmaker wiedergewinnen konnte. Das wohl überraschendste Wahlergebnis bestand vielmehr darin, dass sich die Liberalen unter den Erstwählern den höchsten Stimmenanteil aller Parteien sichern konnten – was gegen den Tenor der Leitmedien eher einen liberalen als grünen Aufwind verheißt. Der Wunsch nach mehr persönlichen Freiheiten während der Corona-Krise soll dabei eine maßgebliche Rolle gespielt haben. War dies angesichts der Berichterstattung zur Krise wie auch zur FDP zu erwarten? Dass die Zustimmung zu den Grünen dagegen von in Umfragespitzen fast 30 Prozent auf am Ende dann doch nur 15 wie ein Soufflé in sich zusammenfiel, wirft zumindest die Frage auf, welchen Beitrag eine phasenweise euphorische journalistische Begleitmusik zum Höhenflug leistete.

      Der Band gliedert sich in drei Abschnitte. Der erste, »Liberalismusschwund und Liberalitätsverluste« erörtert aktuelle Herausforderungen für den liberalen öffentlichen und medialen Diskurs – von links, rechts, oben und unten. Hier werden sie herausgearbeitet, die Zerreißproben.

      Der zweite Abschnitt, »Liberaler Journalismus, liberale Journalisten?« fokussiert darauf aufbauend auf die Medien, den Journalismus und die Journalisten. Er beleuchtet die (begrenzten) verfügbaren Erkenntnisse zu politischen Haltungen im Berufsfeld und lädt profilierte Journalistinnen und Journalisten dazu ein, Zerreißproben aus der Innensicht zu reflektieren.

      Der dritte Abschnitt schließlich, »Parteien, Liberalität und Medien«, wendet sich der Politik zu, den Parteien und auch ihrem Verhältnis zum Journalismus. Dabei nimmt die FDP relativ viel Raum ein, reklamiert sie doch traditionell den Liberalismus für sich. Doch auch die Bedeutung von Liberalismus und Liberalität für Union, Grüne, Sozialdemokraten und Linke werden kritisch diskutiert – mal von innen, mal von außen, mal von erfahrenen etablierten Politikern und Beobachtern, mal vom Nachwuchs.

      Erster Abschnitt:

      Liberalismusschwund und Liberalitätsverluste

      Die Publizistin und Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann eröffnet die Debatte mit einem sorgenvollen Blick auf den Liberalismus unter Druck. Sie beschreibt, wie eine zunehmend hitzige Rechts-Links-Konfrontation die politische Mitte verunsichert. Dies gilt nicht zuletzt für lautstarke Kulturkämpfe, in denen liberale Grundwerte kaum noch in Erscheinung zu treten scheinen. Dabei droht, so ihr Argument, die liberale