O oder P – entspricht am ehesten der Art deiner Erfahrung des Apfels?«
Schweigen. Oder vielmehr Creedence Clearwater. Sie spielten gerade »I Heard it Through the Grapevine«. Ist es nicht faszinierend, dass Erfahrung nie nur auf eine Sache beschränkt ist, nie völlig auf etwas Bestimmtes konzentriert, zum Beispiel das Lesen von Kant, sondern immer aus mehrerem besteht, also Kant lesen und hören, wie Eleonora sich die Haare föhnt, Kant lesen und den Duft eines Apfelkuchens wahrnehmen, der gerade aus dem Ofen kommt, Kant lesen mit Rückenschmerzen, die von einer verkrampften Haltung herrühren. Oder alles gleichzeitig. Und jetzt Creedence Clearwater, die darüber jammern, dass jemand nicht mehr lange jemand anderem gehören wird.
»Die Sache ist die«, Riccardo wendet sich wieder seinem Blatt Papier zu und fängt mit schnellen Strichen an zu zeichnen, »wenn wir N oder P wählen« – er fügt ein Wirrwarr von Neuronen neben dem Buchstaben N ein, und neben P zeichnet er ein Gesicht, eine Fontäne aus Photonen, einen Apfel –, dann brauchen wir eine ganze Reihe guter Gründe, warum etwas, das alles andere als rot, rund und apfelig ist, von uns als rund, rot und ausgesprochen apfelig erlebt wird. Stimmt’s? Wir sind schon wieder mit dem alten Rätsel konfrontiert: Das Gehirn sieht so aus, der Prozess scheint so abzulaufen, aber die Erfahrung ist der Apfel.«
»Also?«
Riccardo lacht. Die Musik wechselt zu einem Song, den ich nicht erkenne. »Hat Sherlock Holmes nicht gesagt, wenn du alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen hast, dann muss die unwahrscheinlichste zutreffen?«
»Ja, so in etwa.«
»Also ist deine Erfahrung des Apfels mit dem Apfel identisch. Sie muss es sein! Nur das externe Objekt ist identisch mit deiner Erfahrung des externen Objekts.«
Das ist so, als würde man dazu aufgefordert, von einer konzeptuellen Klippe zu springen, im Vertrauen darauf, dass sich dicht genug unter einem etwas befinden wird, wenn man es tut. Wieder muss ich an Indiana Jones denken. Seinen Sprung des Glaubens.
»Willst du damit sagen, ich bin der Apfel?«
»Ich sage, deine Erfahrung ist der Apfel.«
»Aber der Apfel ist da und ich bin hier.«
»Dein Körper ist hier. Deine Erfahrung ist da. Dein Körper ist an einem Ort, und deine Erfahrung ist dort, wo der Apfel ist, weil Erfahrung und Apfel eins sind. Die Erfahrung ist mit dem Apfel identisch, dank des kausalen Prozesses, der das Objekt mit deinem Körper verbindet. Du bist Apfel. Identität.«
»Aber der Apfel wiegt etwas und ich spüre kein Gewicht. Der Apfel ist saftig, und ich schmecke keinen Saft. Die Schale hat eine bestimmte Struktur und ich spüre sie nicht.«
Riccardo spricht im Tonfall eines Erwachsenen, der mit einem Vierjährigen redet. »Ich sage nicht, dass deine Erfahrung mit einem idealen Apfel identisch ist, oder einem Galileo-Apfel, oder einem Apfel, wie Gott ihn sieht, oder einem Noumenon, dem kantischen Apfel an sich, oder einem Apfel in einem Röntgengerät, oder einer Apfelscheibe unter einem Rasterelektronenmikroskop oder einem Apfelstück in deinem Mund. Ich sage auch nicht, dass deine Erfahrung des Apfels die Musik von Creedence Clearwater und deine Hämorrhoiden und deine Sorge, ob sich Frauen für dich interessieren, und alle anderen Erfahrungen und Identitäten eliminiert. Ich sage nur, deine Erfahrung des Apfels ist mit dem Apfel identisch, den deine Wahrnehmungsorgane ausgestalten, wenn sie den Apfel anschauen, mit deinen Augen, nicht mit meinen, mit deinem Gehirn und deinen früheren Erfahrungen mit unterschiedlichen Äpfeln, bei diesen Lichtverhältnissen, im Fall dieses ganz bestimmten Apfels. Nur der Apfel, dieser Apfel, jetzt, passt genau zu den Eigenschaften deiner Erfahrung, hier und jetzt, des Apfels. Die Erfahrung ist der Apfel, den du erlebst. Nehmen wir den Apfel weg, gibt es keine Erfahrung.«
Er nimmt das Tischset, knüllt es zusammen, lacht und trinkt sein Bier aus.
Der Apfel ist weg. Aber ein heftiger innerer Aufruhr ist geblieben.
»Ich werde ihn träumen«, erkläre ich. »Frisch vom Baum der Erkenntnis. Was ist mit Träumen?«
»Träume kommen später dran! Halluzinationen auch! Keine Sorge!«
* Mittlerweile habe ich zu meiner Beruhigung von der Erkenntnis des Philosophen Thomas Nagel erfahren, der feststellt, dass, angenommen man hätte Zugang zum Gehirn von jemandem, der gerade Schokolade isst, und wäre in der Lage, an der entsprechenden Hirnregion der Person zu lecken, diese nicht nach Schokolade schmecken würde.
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