aber tatsächlich gesehen habe ich ihn nicht. Was die Objekte und Orte betrifft, so konnte ich sie mir selbst beschreiben, in Worten. Der Schreibtisch rechts von der Tür. Das Bücherregal gegenüber. Wenn es hätte sein müssen, hätte ich eventuell eine grobe Zeichnung davon zu Papier bringen können. Ich wusste, welche Farbe die Wände und die Stühle hatten.
Aber ich sah sie nicht.
Bei Gesichtern hingegen war es eher wie der Moment im Ankunftsbereich des Flughafens, wenn man auf jemanden wartet, der einem nahesteht. Ich erinnere mich besonders gut an ein Mal in Heathrow, als meine jüngere Tochter Lucia aus Japan zurückkam. Sie war damals erst fünfzehn, und ich konnte es kaum erwarten, sie nach einem Monat Abwesenheit wiederzusehen. Man steht an der Absperrung, während die Leute durch die Drehtüren strömen, und sucht in der Menge von Gesichtern, die einem nichts bedeuten, nach dem einen geliebten Gesicht, will unbedingt, dass es erscheint. Man denkt intensiv an die Person. Man weiß ganz genau, auf welches Gesicht man wartet. Das Gesicht. Es ist ausgeschlossen, dass man sie nicht erkennt. Das wäre undenkbar. Etwas im eigenen Kopf wartet angespannt darauf, aktiviert zu werden. Man spürt es körperlich. Wenn das Gesicht erscheint, wird es so sein, als würde ein Schlüssel im Schloss umgedreht und eine Tür aufgestoßen, die den vollen Blick freigibt. Und dennoch, bis zu dem Sekundenbruchteil, in dem das Gesicht endlich auftaucht, sieht man es nicht wirklich. Das Gesicht ist eine Anspannung, ein Potenzial. Aber man besitzt es nicht. Man kann es nicht willentlich hervorbringen. Das ist vermutlich der Unterschied zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Ganz einfach: Wenn jemand abwesend ist, dann sieht man die Person nicht. Darin besteht der Schrecken der Abwesenheit. Oder in manchen Fällen das Glück. Es gibt kein Foto in den Aktenschränken des Kopfes. Wäre dort eines, dann bräuchte man die gewöhnliche Fotografie nicht. Höchstwahrscheinlich gibt es dort auch keine Aktenschränke. Manzotti hatte recht. Zumindest im Wesentlichen.
Aber was ist mit Träumen?
Ich träume oft das Gesicht meiner Tochter. Dann sind meine Augen natürlich geschlossen, und sie ist nicht körperlich anwesend. Dennoch kann ihr Gesicht ganz intensiv da sein. Je weiter jemand in Zeit und Ort entfernt ist, so ist jedenfalls meine Erfahrung, desto wahrscheinlicher ist es, dass man von der Person träumt. Ich träume oft von meinem Bruder in Amerika. Und wenn jemand, der einem nahesteht, stirbt, dann träumt man fast zwangsläufig von dieser Person. Ich habe jahrelang von meinem Vater geträumt. Mein Vater war im Leben ein ernster Mann, oder vielleicht auch nur distanziert, aber im Traum zwinkert er mir zu; er ist mein Komplize, obwohl er komischerweise fast immer seine Robe trägt, die Soutane mit Chorhemd und das Kollar des Geistlichen. Wenn du deine Frau verlassen musst, sagt das Gesicht meines Vaters in meinen Träumen, dann bin ich bei dir und vergebe dir.
Das hätte er im Leben niemals gesagt.
Ich ermittelte Manzottis E-Mail-Adresse und lud ihn auf ein Bier ein, das erste von vielen. In den folgenden Monaten und Jahren machten wir gemeinsam unsere Ehekrisen durch, und er präsentierte mir eine vollkommen veränderte Vision von dem, was Bewusstsein und Erfahrung sind oder sein könnten. Plus eine ellenlange Leseliste, von den Vorsokratikern über Hume, Kant und William James, Ryle und Searle und Dewey und Nagel und Dennett und Ned Bloch und Varela bis hin zu anderen, weniger bekannten Leuten wie Teed Rockwell, Alva Noë, Andy Clark und Mark Rowlands.
Doch wo soll ich anfangen?
Vielleicht bei den Robotern. Manzotti hatte mit dem Bauen von Robotern angefangen. Oder genauer gesagt, er hatte eine Roboter-Version des menschlichen Sehsystems zur Anwendung bei anthropomorphen Robotern mit Stereovision gebaut. Er war an mehreren italienischen Universitäten, unter anderem in Genua, Mailand, Palermo und später am Korean Institute of Science tätig. Sein Hauptziel zur damaligen Zeit war es, zu verstehen, ob und wenn ja wie intelligente Automaten so etwas Ähnliches wie ein menschliches Bewusstsein entwickeln könnten. Dabei wurde ihm zum ersten Mal klar, sagt er, dass das Standardmodell der bewussten Wahrnehmungserfahrung – der Gedanke eines Inputs von außen in einen Kopf, in dem dann Verarbeitungsprozesse und Berechnungen ablaufen – einfach nicht funktionierte. Man konnte auf dieser Basis keinen intelligenten Roboter bauen. »Man sagt, der Roboter speichert mithilfe seiner Videokamera Bilder von der Welt und vergleicht sie mit seiner unmittelbaren Umgebung«, bemerkte er. »Aber das stimmt nicht, er speichert vielmehr digitale Daten. Er hat keine Bilder in seinen Schaltkreisen. Keine Fotos. Wenn dort Fotos wären, bräuchte man jemanden, der sie anschaut.«
Welche logischen Konsequenzen hatte das?
Endlos viele.
Das ist jedes Mal das Problem, wenn ich versuche, Manzottis Ansichten wiederzugeben. Genauso würde es auch sein, wenn ich sie Sabina Pauen beim Mittagessen in Heidelberg darlegte, und dann den beiden anderen Professoren, mit denen ich in der deutschen Stadt verabredet war, dem Philosophen und Psychologen Thomas Fuchs und der Neurowissenschaftlerin Hannah Monyer. Die Leute haben es eilig, Manzottis Behauptungen sind gigantisch und erfordern ein völliges Umdenken hinsichtlich der Frage, wer und was wir sind und was die Welt sein könnte. Sogar die scheinbar simple Frage, was ein Objekt ist, muss ernsthaft revidiert werden. Ganz zu schweigen vom heiklen Problem der Zeit …
Und wer von ihnen würde schon annehmen, dass eine Theorie, von der sie bisher noch nie gehört haben, noch dazu eine, die ihnen von einem Romanautor nahegebracht wird, einem Mann, der weitaus berühmter für Fiktionen als für Fakten ist, tatsächlich Bestand haben oder zumindest interessant sein könnte? Ist es nicht viel naheliegender, anzunehmen, dass Parks’ Freund Manzotti ein Scharlatan ist, eine Niete, trotz seiner zahlreichen Publikationen in ernsthaften wissenschaftlichen Zeitschriften, seiner Kollaborationen mit angesehenen Universitäten, seinem PhD in Robotik und seiner Professuren in Psychologie und Philosophie?
Oder, alternativ, dass Manzotti durchaus ernst zu nehmen ist, Parks aber nicht richtig verstanden hat, wovon er spricht. Nicht mal annähernd. Oft fürchte ich selbst, dass Letzteres tatsächlich zutrifft. Manzottis Ideen faszinieren mich, in vielen Bereichen überzeugen sie mich – im Gegensatz zu vielen anderen Wissenschaftlern appelliert er immer direkt an die Erfahrung, lebt seine Ideen –, aber in Diskussionen darüber fühle ich mich dennoch angreifbar. Sie wirken wie vom Himmel gefallen, obwohl sie zugleich völlig dem gesunden Menschenverstand zu entsprechen scheinen. Vielleicht wünsche ich mir ja insgeheim, wenn ich mit jemandem über Manzottis Ansichten rede, mein Gesprächspartner möge dessen Vorstellungen in Grund und Boden stampfen, mich ein für alle Mal von dieser charismatischen Figur befreien. Ich bin hin- und hergerissen. Zweifellos würde ein Neurowissenschaftler, der die Vorgänge in meinem Kopf aufzeichnet, sofort erkennen, dass Manzottis Ideen ähnlich wie die rubinsche Vase mal den einen, mal den anderen Bereich meines Gehirns aktivieren, den Teil, der sagt, dass etwas wahr ist und man sich sofort darum kümmern muss, und den, der sagt, dass etwas nur ein Hirngespinst ist, absurd, und mir nichts als Ärger und Blamage einbringen wird. Immer, wenn ich mich auf Manzottis Denkweise einlasse, gerät meine Welt aus den Fugen.
Was uns zurück zur Frage der Autorität bringt. Die meisten Menschen glauben mehr oder weniger das Gleiche über den Geist, den Körper und unsere Wahrnehmung, und in den meisten Fällen entspricht das dem, was unterschiedliche Autoritäten uns nahelegen. Es gibt kaum einen Ismus oder eine Religion oder eine intellektuelle Elite, vom Platonismus über das Christentum bis hin zum Empirismus und Szientismus, die uns nicht davor warnen, dass besondere geistige Kräfte, besondere Beziehungen mit übernatürlichen Wesen oder ganz einfach besondere und ausgefeilte Maschinen nötig sind, um zu erkennen, was sich tatsächlich zwischen uns und der Welt abspielt. Immer wieder wird uns eingehämmert, dass nur die Hellsichtigen, die Genies, die Priester, die Wissenschaftler, die Supercomputer wirklich Bescheid wissen. Wir hingegen können es nicht verstehen. Wir sind unendlich fehlbar. Das führt dazu, dass wir uns regelmäßig dabei wiederfinden, wie wir Erklärungen der Wirklichkeit akzeptieren, die mit unserer Erfahrung nicht im Geringsten übereinstimmen.
Wenn ich zum Beispiel ein Pfefferminzbonbon lutsche, dann kommt es mir definitiv so vor, als sei diese Erfahrung in meinem Mund zu verorten, am Treffpunkt von Zunge, Gaumen und Bonbon. Aber die zeitgenössische Wissenschaft sagt mir, dass das nicht so ist, dass meine Erfahrung vielmehr in meinem Gehirn stattfindet. »Die einzige Realität, die wir erfahren, ist die Realität des Gehirns«, schreibt Semir Zeki, »die einzigen Wahrheiten, die wir kennen, sind Wahrheiten des Gehirns.« Es gibt