Verbindung zur Welt und das große Rätsel unserer Wahrnehmung in jedem einzelnen Augenblick: dass alles, was außen ist, wenn ich morgens die Augen aufschlage – die Wand, der Schrank, das Bettzeug, meine Partnerin –, sozusagen auch in mir ist, oder zumindest mir gegenwärtig, mir irgendwie eigen, und folglich an zwei Orten zugleich existiert, der Schrank im Zimmer und der Schrank in meinem Kopf. Wie kann das sein und was geschieht hier eigentlich konkret? Diese Frage beschäftigt mich, ist Thema meines langen Austauschs mit Riccardo Manzotti, Gegenstand unend licher Lektüre und in gewisser Hinsicht auch die Frage, die jeder Roman aufwirft: Wie passen das Erleben und die Erfahrungen der einzelnen Figuren mit der Welt als Ganzem zusammen, inklusive der Erfahrungen aller anderen Figuren? Wie stark sind wir voneinander getrennt, wie sehr miteinander verbunden? Inseln ganz für uns allein, oder Teile des Kontinents, Brocken des Festlands?
Bin ich also unter falschem Vorwand nach Heidelberg gekommen, oder greife ich zumindest die »ansehnliche Summe« quasi mit meiner ungelenken linken Hand ab, während meine (hoffentlich) kompetentere rechte mit etwas ganz anderem befasst ist? Nicht ganz. Denn nichts könnte wichtiger sein, wenn man sich die konkurrierenden Behauptungen von Wissenschaft und Religion anschaut, als die Frage, ob das Ich, der Geist, die Seele oder einfach das Bewusstsein, etwas Separates ist, das sich isoliert im Kopf befindet, oder ob es sich dabei um eine andauernde Zusammenarbeit zwischen dem Körper, dem Gehirn und der Welt handelt. Trifft Ersteres zu – ist der Geist abgetrennt und isoliert –, dann haben wir es mit dem Traum der Abstraktion zu tun, der Möglichkeit, dass das, was ich mir als »Ich« vorstelle, irgendwie vor dem letztendlichen, unvermeidlichen Verfall des Körpers gerettet werden kann, vielleicht gar in den Himmel aufzusteigen vermag, wie die Christen glauben, oder irgendwann in der Zukunft ganz einfach auf einen besonderen Computer hochgeladen werden kann, wie eine Reihe von Neurowissenschaftlern es für möglich halten. Wenn der Geist hingegen ein Phänomen ist, das von der Interaktion des Körpers mit der Welt abhängt, oder der Interaktion der Welt mit dem Körper, wenn er tatsächlich von dieser Interaktion abhängt und aufrechterhalten wird, dann endet zwangsläufig mit dem Tod des Körpers auch er.
Oder, wenn Ersteres zutrifft – der Geist von allem abgeschnitten im Kopf existiert, wo er Strippen zieht und Knöpfe drückt (allein oder im Team), um dem Körper Anweisungen zu erteilen –, dann wird unser Wissen über die Außenwelt immer Anlass für Misstrauen bieten. Wie kann ich eine Welt kennen, wenn ich nicht Teil von ihr bin, wenn ich in Platons Höhle gefangen und nicht in der Lage bin, die Realität draußen zu erleben, wenn ich Farben sehe, wo keine Farben sind, Gerüche wahrnehme, wo laut Galileo keine Gerüche sind? Ich mag auf das Paradies zusteuern oder potenziell auf Microchips unsterblich werden, aber meine Erfahrung wird, wie Christof Koch mir sagt, nichts als »Schwindel« sein. Ich bin eine Anomalie auf einem Plane-ten, der ganz anders ist, als ich ihn wahrnehme, ich bilde mir Sachen ein, die gar nicht da sind. Misstraue immer deinen Sinnen, rät uns Bacon. Es ist beunruhigend.
Aber wenn Letzteres zutrifft – wenn der Geist eine Folge der Begegnung zwischen Körper und Welt ist –, dann ist der Geist tatsächlich eins mit der Realität, denn dann ist der Geist das gemeinsame Geschehen von Körper und Umgebung, wobei die Umgebung natürlich auch andere Menschen mit einschließt; in diesem Szenario wird der Geist, der beileibe nicht isoliert und verblendet ist, zum Beweis einer realen Begegnung. In welchem Fall ich vielleicht nicht unsterblich bin, aber ebenso wenig einen Priester oder einen Neurowissenschaftler bräuchte, der mir sagt, was Sache ist. Meine Erfahrung ist das, was Sache ist. Sie geschieht tatsächlich.
Es hängt also einiges ab von Alva Noës vernichtender Kritik zu Alles steht Kopf, die, wie ich beim Downscrollen mithilfe des exzellenten WLANs im Hotel Panorama feststelle, von den meisten, die dazu einen Kommentar geschrieben hatten, gehasst wurde – zumeist Leute, die den Film charmant und unterhaltsam fanden und nicht verstehen, was der Philosoph für ein Problem damit hat; er ist ein Intellektueller, ein Langweiler, murren sie, obwohl die meisten aus dem Namen Alva schließen, dass es sich bei Noë um eine Sie und nicht um einen Er handelt. Sie stehen unter dem Einfluss kultureller Normen: Ausländische Vornamen, die auf »a« enden, sind normalerweise weiblich. »Die Frau braucht Hilfe!«, protestiert jemand. Und das, so wird mir klar, ist etwas, womit auch ich mich werde herumschlagen müssen, wenn ich behaupte, die derzeit gültige Standardsicht, nach der unsere bewusste Erfahrung im Kopf eingeschlossen ist, sei Unsinn. Die große Mehrheit der Leute scheint diese Vorstellung recht annehmbar zu finden. Sie besitzt den Status einer kulturellen Norm, wie die Sprache, die wir sprechen, oder unser Glaube an die Demokratie, oder schlicht und einfach gute Manieren. Dagegen anzukommen wird nicht leicht sein.
Aber die Zeit rast, und die guten Manieren verlangen jetzt von mir, zu meiner Verabredung um 10.30 Uhr nicht zu spät zu kommen. Laut Google Maps ist Sabina Pauens Büro nur fünf Minuten zu Fuß von hier entfernt, also gebe ich mir zehn. Folglich bleiben mir noch zwanzig, um meine Notizen durchzugehen.
Im Wesentlichen hat mir Pauen drei wissenschaftliche Forschungsberichte geschickt, einen über Gesichtserkennung bei Babys im Alter von neun Monaten, einen darüber, wie Kleinkinder sich Wissen über Werkzeuge und Utensilien aneignen, und einen, der untersucht, ob Einjährige anders reagieren, wenn ihre Reaktion auf einen Menschen oder ein Objekt durch einen Erwachsenen angeleitet wird. Die Terminologie ist teilweise beängstigend. Das Gesichtserkennungsexperiment wirkt anfangs ganz einfach, scheint kaum mehr zu umfassen als Babys, denen man Fotos zeigt, aber wenn man genauer hinschaut, wird es unheimlich komplex. Die Babys müssen im gleichen Alter sein, in etwa die gleiche ethnische Zugehörigkeit haben und der gleichen sozialen Schicht entstammen, und beide Geschlechter sollen gleich stark vertreten sein. Die Fotos müssen standardisiert und gründlich geprüft sein, sie zeigen ausschließlich weiße Gesichter von ähnlicher Form und Größe, mit neutralem Gesichtsausdruck, in ähnlicher Helligkeit und Farbgebung.
Die Abfolge ist entscheidend. Sollen die Babys »vorbereitet« werden, das heißt, soll ihnen ein Bild gezeigt werden, bevor der eigentliche Wiedererkennungstest beginnt, um die Testerfahrung von der vorhergehenden Erfahrung abzugrenzen? Wenn ja, soll dieses Vorbereitungsbild ebenfalls ein Gesicht zeigen, oder ein anderes Objekt, oder ein geometrisches Muster? Sollen den Babys gleich viele Männer und Frauen gezeigt werden? In welchem Alter? Abwechselnd oder zufällig gemischt? Sollen extrem hässliche oder extrem schöne Gesichter darunter sein, solche, die von der Konzentration auf männlich/weiblich ablenken? Wie lange soll jedes Foto gezeigt werden? Ein paar Millisekunden, eine Sekunde, zwei Sekunden? Wie oft sollen sich die Gesichter wiederholen, und sollen Wiederholungen in regelmäßigen Abständen oder zufällig erfolgen? Usw. usf.
Alle Babys müssen vor gleich großen Bildschirmen sitzen, im selben Abstand, auf dem Schoß der Mutter, aber die Mutter muss darauf achten, nicht mit dem Baby zu interagieren. Lässt sich das leicht gewährleisten? Während des Tests muss jemand überprüfen, ob das Baby tatsächlich auf den Bildschirm schaut, und wenn nicht, dann muss das notiert werden. Das Baby trägt dabei ein mit Elektroden gespicktes Haarnetz auf dem Kopf, damit in einem EEG die elektrischen Ströme unter der Schädeloberfläche aufgezeichnet werden können. Die Aufmerksamkeit liegt auf den mit der Gesichtserkennung verbundenen Wellenlängen, die übrigens nicht die gleichen sind wie bei Erwachsenen. Das Enzephalogramm wird mit der Diashow synchronisiert, sodass es hinterher leichtfällt, die Reaktionen den einzelnen Bildern zuzuordnen. Wenn das Kind nicht aufmerksam war, wird das Einzelergebnis ignoriert. Manchmal passiert auch noch etwas anderes, ein Schluckauf oder ein Juckreiz, und auch dann muss das Ergebnis verworfen werden. Manche Babys sind so wenig aufmerksam, dass die seltenen Momente, in denen sie es doch waren, nicht gewertet werden können, denn wie soll man die Gesamtwirkung der Bilderfolge, inklusive der Wiederholungen und so weiter, beurteilen, wenn das Baby nur einen Bruchteil davon angeschaut hat? Die Ergebnisse von 60 Prozent der getesteten Babys werden verworfen.
Sobald die Tests vorbei sind, beginnt die eigentliche Arbeit. Welche Wellenlängen wurden gemessen? Wie lange genau nach dem Zeigen jedes Fotos traten sie auf? Mit welcher Amplitude? Ist die Reaktion eine andere, wenn das Kind vorbereitet wurde? Ist die Reaktion auf männliche und weibliche Gesichter dieselbe? Bleibt die Reaktion gleich, wenn ein Bild wiederholt wird? Ist die Veränderung in der Reaktion bei männ lichen und weiblichen Gesichtern gleich? Hängt sie davon ab, ob das Kind männlich oder weiblich ist?
Um das alles erfassen zu können, musste ich mich einlesen in die Anatomie des Gehirns und die Enzephalografie