Tim Parks

Bin ich mein Gehirn?


Скачать книгу

      Eigentlich wollte ich unser Frühstücksgespräch nutzen, um über Professor Pauens Experimente zu reden und mich so auf das Interview vorzubereiten. Aber es ist unmöglich, nicht über dieses Gelb zu sprechen. Es nimmt uns in Beschlag. Die Frau ist aufwendig geschminkt, strahlt aber dennoch eine Art gespielte Natürlichkeit aus. Und ihr Auftritt ist berückend. Wieso ist sie so anders als der Rest von uns? Wie kommt es, dass sie und ihr Mann sich Essen an den Tisch bestellen können, während wir aufstehen und das Buffet plündern mussten und uns eine ordentliche Tasse Tee erst nach einigem Herumprobieren vergönnt war? Ist es so, dass unsere Gehirne auf Konformität gepolt sind oder sich damit abgefunden haben, während diese Frau, nachdem sie im Laufe der Jahre anderen Eindrücken ausgesetzt war als wir oder, wahrscheinlicher, die gleichen Eindrücke völlig anders verarbeitet (was immer das bedeutet) hat, ein freier Geist ist? Oder gehorcht sie nur anderen Normen? Ihr Benehmen ist, wie meine Partnerin mithilfe einer italienischen Redewendung feststellt, »tutt’un programma«. Sie hat ihren Look nicht selbst erfunden. Er scheint den Kodachrome-Fotografien in einer Modezeitschrift aus den 1960er-Jahren zu entstammen. Ich äußere die Vermutung, dass sie so etwas irgendwann einmal gesehen hat und es seitdem so tief in ihrer Psyche verankert ist, dass sie es immer wieder reproduziert.

      Nein. Meine Partnerin sieht diese Frau nicht als eine Person, die sich einer Prägung unterworfen hat, sondern eher als eine Strategin, die sich ausrechnet, wie sie am effektivsten alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann. Frauen sind immer die schärfsten Kritikerinnen anderer Frauen. Jedenfalls wird mir, während ich meine Serviette zusammenlege, klar, dass der gelbe Hut bei mir einen so starken Eindruck hinterlassen hat, dass ich mich allein seinetwegen für immer und ewig an dieses Frühstück und an dieses Hotel erinnern werde. Ich werde mit dem Hut anfangen und dann den Rest der Szene daraus ableiten können: meine Position im Raum im Verhältnis zur Trägerin des Huts, und damit auch zu allen anderen Anwesenden, den Japanern, den Arabern, dem deutschen Paar im mittleren Alter, den Fenstern und dem herrlichen Frühstücksbuffet, das in all seiner glänzenden, fruchtig-bunten Pracht von den Wänden gespiegelt wird, ganz ähnlich wie man sich an einen Traum erinnert, indem man mit einem Fragment anfängt, das man beim Aufwachen noch im Sinn hat, etwa dem Blick durch die hohen Bäume des Waldes auf den schmalen Fluss.

      Aber jetzt wird es Zeit, nach oben zu gehen und mich auf mein Interview vorzubereiten.

      Mir bleiben noch vierzig Minuten, um vor dem ersten Interview meine Notizen noch einmal durchzugehen. Aber fassen wir kurz zusammen. Vor etwa zwei Jahren erhielt ich eine E-Mail von einem Mann namens Jakob Köllhofer, der mich einlud, an einem Projekt teilzunehmen, bei dem »Schriftsteller zu Wissenschaftlern unterschiedlicher Institute der Universität Heidelberg geschickt werden« sollten, um herauszufinden, »ob die ›Naturwissenschaften‹ in der Lage wären, ein Konzept für eine ›neue Metaphysik‹ zu entwickeln«. Ich war fasziniert von Köllhofers Gebrauch der Anführungszeichen, zugleich aber verblüfft von der Idee. Wie kann die Beobachtung der Welt und selbst die daraus folgende Reflexion und Spekulation uns je zu dem Warum der Existenz der Welt führen? Man kann die Urknall-Theorie beweisen und trotzdem nichts darüber erfahren, warum der Urknall sich ereignet hat oder warum er sich in dem betreffenden Moment ereignet hat. Oder ob er sich ereignen musste. Und selbst wenn man all das herausfände, bliebe es immer noch ein Geheimnis, was davor war, und dann wiederum davor.

      Im weiteren E-Mail-Austausch stellte sich jedoch heraus, dass sich Köllhofer in erster Linie für die Frage interessierte, ob die Wissenschaft in den Köpfen der Menschen allmählich die Religion ersetzte. Das schien eher ein anthropologisches Thema zu sein als harte Wissenschaft, etwas, zu dem ich unter Umständen tatsächlich etwas beisteuern könnte. Hinzu kam, dass in der ursprünglichen Einladung gestanden hatte, Köllhofers Arbeitgeber, das Deutsch-Amerikanische Institut, könne mir dafür »ein ansehnliches Honorar« anbieten. Wer wäre nicht neugierig, was in einem solchen Satz wohl mit »ansehnlich« gemeint war? Zudem hätte ich Gelegenheit, ein paar Spitzenwissenschaftler zu treffen und mit ihnen über das menschliche Bewusstsein zu sprechen.

      Denn das Bewusstsein fasziniert mich schon seit einigen Jahren, ich brenne förmlich darauf, über das Thema zu reden und nachzudenken. Womit ich sagen will, dass ich seit ein paar Jahren im Gespräch mit Riccardo Manzotti bin und mit ihm eine der intensivsten und längsten Debatten meines Lebens führe. Und bei der Rückkehr in unser Hotelzimmer machte ich jetzt tatsächlich, als ich mich an den kleinen Schreibtisch dort setzte, den Fehler, vor der Durchsicht meiner Notizen über Sabina Pauen noch meine E-Mails zu checken. Und natürlich war eine Mail von Riccardo eingetroffen, mit einem Link zu einer Rezension des Philosophen Alva Noë über den Film Alles steht Kopf. Eine Filmkritik von einem Philosophen bekommt man nicht alle Tage zu lesen, daher machte ich gleich anschließend den nächsten Fehler, indem ich, statt Pauens Aufsatz über »Object Categorization and Socially Guided Object Learning in Infancy« noch einmal zu lesen, diese Kritik überflog.

      An den Pixar-Zeichentrickfilm Alles steht Kopf werden Sie sich sicherlich erinnern. Ein Mädchen namens Riley macht darin eine emotional turbulente Phase durch, als ihr Vater eine Stelle in einer anderen Stadt annimmt und sie mit dem Umzug und ihrer neuen Umgebung klarkommen muss. Aber das Konzept des Films besteht darin, Rileys Psyche mithilfe von fünf winzigen Gestalten darzustellen, die in ihrem Kopf herumflitzen und um die Kontrolle über die Schaltknöpfe wetteifern, die Rileys emotionale Reaktionen steuern. Diese kleinen Homunkuli, die den Figuren anderer Pixar-Filme unheimlich ähnlich sehen, stehen explizit für die Gefühle Freude, Kummer, Wut, Angst und Ekel, aber da sie gleichzeitig auch voll ausgeprägte Individuen sind, wirft der Film die Frage auf, von der Alva Noë behauptet, sein Sohn hätte sie ihm schon beim Anschauen des Films gestellt, nämlich ob diese kleinen Gestalten in Rileys Kopf ihrerseits weitere, noch kleinere Gestalten in ihren eigenen Köpfen haben. Und die Frage, warum Riley das Gefühl hat, nur eine einzige Person zu sein und nicht fünf, oder fünf mal fünf oder fünf mal fünf mal fünf? Und so weiter.

      Auch wenn es wenig überrascht, dass ein Pixar-Film nicht unbedingt das Nonplusultra in Sachen Psychologie, Ontologie oder Metaphysik ist, finde ich es doch interessant, dass Alles steht Kopf so breite Anerkennung fand und als innovativ, einsichtsvoll und lehrreich gepriesen wurde, und das, obwohl die arme Riley kaum mehr als eine Marionette zu sein scheint, die den Launen ihrer fünf inkompetenten Puppenspieler hilflos ausgeliefert ist. Entspricht das wirklich der Vorstellung, die die meisten Menschen von der Beziehung zwischen Körper und Geist haben? Noë bemerkt dazu:

      Descartes (1596–1650) formuliert den Gedanken, den er allerdings nicht unterstützt, der Körper sei ein Schiff und das Ich hause im Körper wie der Lotse in diesem Schiff. Hume (1711–1776) brachte die Vorstellung voran, dass es kein Ich gibt, dass das, was wir das Ich nennen, tatsächlich nur ein Bündel von Wahrnehmungen, Gefühlen und Gedanken ist. Die zeitgenössische Kognitionswissenschaft verknüpft diese beiden Konzepte zu einer äußerst unbeholfenen Synthese: Wir sind das Gehirn, das wiederum nicht in Gestalt eines Ichs daherkommt, sondern als riesiges Heer von kleinen Ichs oder Instanzen, deren kollektive Handlungen das erzeugen, was von außen betrachtet so wirkt, als sei es ein und dieselbe Person.

      Beim Lesen dieses Textes kann ich nicht umhin, Noë um seine synthetischen Fähigkeiten zu beneiden, die alles andere als unbeholfen sind, und ich frage mich, ob Sabina Pauen wohl Alles steht Kopf gesehen hat und bereit wäre, über die darin angesprochenen Themen zu reden, vor allem über die Frage, ob das bewusste Erleben tatsächlich im Kopf eingeschlossen ist und dadurch zustande kommt, dass kleine Menschen im Innern der Menschen einander wie durch Periskope betrachten (ein Effekt, der in Alles steht Kopf erzeugt wird, indem die Homunkuli ihre Augen benutzen, um Bildschirme anzuschauen, die das Material, das Rileys Augen wie Kameras einfangen, aufzeichnen). Oder ob es, das bewusste Erleben, irgendwie auch außen ist, oder zumindest aktiv aus Innen und Außen zusammengesetzt wird, aus der Person, die etwas erlebt, eine Erfahrung macht, und der Sache, die erfahren wird? Denn obwohl ich offiziell hier bin, um für Herrn Köllhofer einen Beitrag zu verfassen, der auf dessen Fragestellung eingeht, ob die Wissenschaft in den Köpfen der Menschen die Religion ersetzt – dafür erhalte ich die ansehnliche Summe von 10.000 Euro –, besteht mein tieferes Interesse doch darin, zu hören, was die Wissenschaftler,