Tim Parks

Bin ich mein Gehirn?


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jemand gestellt«, sagt sie. Sie überlegt. »Wir nehmen es an, ja. In gewisser Hinsicht.«

      »Okay, und würden Sie sagen, dass Wiedererkennen das Gleiche ist wie Erinnern? Ist es irgendwo ›gespeichert‹?«

      »Wir können wirklich nicht sagen, ob das Baby eine spontane Erinnerung an das Gesicht erlebt.«

      »Und Sie wissen auch nicht, warum Sie den Wiedererkennungseffekt bei weiblichen, aber nicht bei männlichen Gesichtern feststellen.«

      »In diesem Alter. Das sollte ich betonen. Ein paar Monate später reagieren die Kinder auch auf männliche Gesichter mit Wiedererkennung. Aber nein. Wir können nur spekulieren, dass ihnen weibliche Gesichter in dem Alter einfach vertrauter sind, da die Welt der Babys hauptsächlich aus Frauen besteht und sie daher ein weibliches Gesicht schneller …«

      »… verschlüsseln und eine Repräsentation erstellen.«

      Sie lacht.

      Ich stelle die allgemeinere Frage, wie die Eltern der Babys das Experiment und sie sehen. Ist es nicht ein bestimmter Elterntypus, der ein Kind hierherbringt, obwohl es dafür kein Geld gibt? Hoffen die Eltern nicht vielleicht, dass ihr Kind der Konkurrenz voraus ist? Oder ihr voraus sein wird? Beeinflusst das nicht das Testergebnis? Was, wenn die Kinder sich gar nicht für die Fotos interessieren?

      »Oh, sie sind sehr oft kein bisschen interessiert!«

      Es scheint öfter vorzukommen, dass Pauens Team ein Kind nach Hause schicken muss, ehe das Experiment abgeschlossen ist.

      »Es geht aber darum, dass wir, wenn wir zwanzig oder dreißig Testergebnisse bekommen, die alle in die gleiche Richtung weisen, nachdem wir die Ergebnisse durchgerechnet haben, eine Studie veröffentlichen können, in der wir sagen, in diesem Alter unterscheiden Babys A von B.«

      »Diejenigen, die den Test nicht abgeschlossen haben, tun das womöglich aber nicht.«

      »Womöglich nicht, nein. Aber das Wichtige ist die Feststellung, dass einige es tun, selbst in diesem frühen Alter.«

      »Wozu ist all das letztendlich gut?«

      Die Aufgabe, »ein Interview zu führen«, zwingt einen, solche Fragen zu stellen. Mir ist schon während ich frage klar, dass mich die Antwort eigentlich nicht interessiert, sondern nur, wie Pauen die Frage einordnen wird, obwohl keines meiner Anliegen – weder die offizielle Frage »Ersetzt die Wissenschaft die Religion?« noch die inoffiziell verfolgte Frage »Was ist das Wesen des Bewusstseins?« – es erforderlich macht, Pauen auf diese Weise zu testen oder darüber nachzudenken, wie gut ihre Forschungsgelder angelegt sind. Ich lasse mich hier also von einer gewissen kulturellen Trägheit ablenken: Dies ist die Art von Frage, die ein potenziell empörter Vertreter der Öffentlichkeit einem Wissenschaftler stellen könnte.

      »Das ist ein heikles Thema«, gibt Pauen zu und schaltet ebenfalls sofort auf Autopilot, erkennt und kategorisiert meine Frage, genau wie ihre Babys männliche und weibliche Gesichter erkennen und zuordnen. Etwas in ihrem Gehirn war darauf vorbereitet; sie hat das schon erlebt. Sie persönlich, sagt sie, empfinde ihre Arbeit als reine Forschung, sie verfolge keine Ziele jenseits der Bestätigung gewisser Hypothesen und der Veröffentlichung entsprechender Studien. Andererseits fragten die Leute sie immer wieder nach praktischen Anwendungsmöglichkeiten, und wenn ihr Team sich um Forschungsgelder bewerbe, sei es natürlich verlockend, einen direkten praktischen Nutzen der Forschungsergebnisse in Aussicht zu stellen, denn damit lie-ßen sich die hohen Kosten wesentlich leichter rechtfertigen.

      »Ich schätze«, fasst sie zaghaft zusammen, »wenn wir feststellen können, wie die normale kindliche Entwicklung abläuft, in welchem Alter Kinder zwischen A und B unterscheiden, in welchem Alter sie lernen, dieses oder jenes Werkzeug zu benutzen, oder zum Beispiel zwischen einer funktionalen Eigenschaft eines Werkzeugs, wie seiner Länge oder seiner Form, und einer anderen zwar reizvollen, aber nichtfunktionalen Eigenschaft wie seiner Farbe zu unterscheiden, dann können wir sagen, ob ein bestimmtes Kind sich mehr oder weniger innerhalb der Norm bewegt, und wo jedes Kind in einem bestimmten Alter in der kognitiven Entwicklung stehen sollte, und wenn wir wollten, könnten wir aus diesen Erkenntnissen pädagogische Aktivitäten entwickeln, um die Kinder im richtigen Moment in die richtige Richtung zu lenken. Wir könnten ihre Entwicklung ein bisschen unterstützen.«

      »Besteht da nicht die Gefahr, dass Sie besorgte Eltern noch darin bestärken, übertrieben viel Aufhebens zu machen? Wie macht sich mein Baby, wie kann ich es in seiner Entwicklung maximal fördern?«

      »Das wäre natürlich zu bedenken«, sagt sie lachend, und in diesem Moment wird mir klar, dass ich sie mag.

      »Übrigens«, sage ich zu ihr, »die Texte sind in ausgezeichnetem Englisch geschrieben. Ist es schwierig, auf Deutsch zu forschen und dann alles in Englische übertragen zu müssen?«

      Seltsamerweise entpuppt sich dieses Kompliment, geboren aus dem Gefühl, dass ich Sabina Pauen mag und ihr gerne etwas Nettes sagen möchte, als meine lohnendste Frage bisher. Das Sprachproblem spiele eine große Rolle, sagt sie, vor allem wenn man etwas veröffentlichen möchte, das den sogenannten herrschenden Erkenntnissen vollkommen zuwiderläuft. Zum Beispiel behaupten sie und ihr Team Dinge über neun Monate alte Babys, die zuvor nur für ältere Kinder galten, nämlich dass sie schon vor dem Spracherwerb Kategorien unterscheiden können, was bedeutet, dass das Konzept der Kategorie auch ohne Sprache schon möglich ist. Eine Aussage, die viele anfechten.

      »Wenn man Ergebnisse wie diese erzielt, stößt man auf Widerstand seitens der Gutachter, die die Studien lesen, das sind Leute, die sich womöglich einen Namen damit gemacht haben, etwas anderes zu behaupten, oder die einfach ihr Leben lang etwas anderes gelehrt haben. Sie wollen nichts wissen von Forschungsergebnissen, die ihnen zeigen, dass sie sich geirrt haben. Also behaupten sie, Ihr English sei schlecht und Ihr Artikel könne so nicht veröffentlicht werden. Oft denke ich, da wird eine leicht inkorrekte Sprache mit Dummheit gleichgesetzt.«

      Das ist definitiv eine Reaktion, die ich in meinen ersten Jahren in Italien selbst kennengelernt habe.

      »Die Wissenschaft hat also auch eine orthodoxe, konservative, dogmatische Seite?«

      »O ja, auf jeden Fall.«

      »Und in dieser Hinsicht gleicht sie tatsächlich einer Religion. Sie will nicht, dass ihr Glaube infrage gestellt wird.«

      »Vermutlich, ja. Obwohl die wissenschaftliche Methodik vorschreibt, dass alle Fakten durch Experimente überprüfbar sein müssen, die beweisen könnten, dass sie falsch sind. Sie müssen widerlegbar sein, so sagt man, anfechtbar. Manchmal haben wir Studien mit aufregenden Ergebnissen rausgeschickt, die wir für absolut wasserdicht hielten, und sie wurden uns mit Kommentaren zur englischen Sprache zurückgeschickt. Daher ist es wohl ermutigend, aber zugleich auch deprimierend, dass Sie, ein Schriftsteller und Übersetzer, mir sagen, das Englisch sei ausgezeichnet.«

      »Ja, es ist gut. Ich hatte absolut kein Problem damit.«

      Es gibt keinen besseren Weg, Freundschaft zu schließen, als dem anderen die Möglichkeit zu geben, seinem Unmut Luft zu machen, und dann zuzustimmen, dass er oder sie schlecht behandelt worden ist. »Ich habe einen Freund«, fange ich an, »der jedes Mal wie ein Wahnsinniger darum kämpfen muss, dass seine Sachen veröffent licht werden.«

      Aber ehe ich mir anschaue, wie sie auf Riccardos ernstlich radikale Ideen reagiert, denke ich, es könnte klug sein, sie zum Mittagessen einzuladen. Sie nimmt sofort an.

      »Es gibt keine Bilder!«

      Damals fiel mir Riccardo Manzotti zum ersten Mal auf. Er war im Publikum, stand auf und sagte diesen Satz, auf Englisch, mit viel Nachdruck und einem starken italienischen Akzent.

      Das war im September 2009, auf einer Konferenz über Kunst und Neurowissenschaft an meiner Uni in Mailand, einem von diesen Foren, zu denen Leute aus unterschiedlichen Forschungsbereichen eingeladen werden, um die Detailstudien ihrer jeweiligen Disziplin vorübergehend außer Acht zu lassen und ihre Arbeit in den allgemeineren Kontext menschlicher Erfahrung zu stellen. Der