Tim Parks

Bin ich mein Gehirn?


Скачать книгу

in der Hoffnung, dass sie mir etwas Inter essantes erzählen wird, teils weil ich das immer tue, wenn ich mich mit jemandem treffe. Ich bemühe mich, freundlich zu sein. Das Deutsch-Amerikanische Institut hat sich da ein sehr ehrgeiziges Projekt einfallen lassen, sage ich zu ihr. Hat sie manchmal das Gefühl, dass die Menschen die Wissenschaft wie eine Religion behandeln?

      »Auf jeden Fall hoffen sie immer, dass ich ihnen etwas Wichtiges sagen werde«, antwortet Doktor Pauen lachend.

      »Vielleicht suchen sie nach Bestärkung durch eine Autorität?«

      Fast ohne jede Vorrede sind wir schon mitten in unserem Thema. Pauen erzählt mir, dass verschiedene Verleger zum Beispiel scharf dar auf sind, dass sie ein Buch über ihre Arbeit schreibt, in dem sie erklärt, wie Kinder schon sehr früh im Leben Kategorien für Dinge, Tiere und Menschen einrichten.

      »Sie möchten, dass ich ausformuliere, wie das Gehirn diese ersten Schritte hin zu Konzepten und Kategorien vollzieht.«

      »Klingt gut.«

      »Aber ich bin mir gar nicht so sicher, wie das genau geschieht. Wenn ich also ein Buch schreibe, dann nagele ich mich selbst auf eine Position fest, die sich sehr leicht widerlegen ließe. Ich würde dumm dastehen.«

      War das nicht genau meine Sorge hinsichtlich des Samowars beim Frühstück gewesen?

      »Die Leute wünschen sich von der Wissenschaft wasserdichtere Aussagen, als sie tatsächlich treffen kann«, vermute ich. »Ist es das?«

      »Genau.«

      Ich bin enttäuscht und ermutigt zugleich. Ermutigt, weil Sabina Pauen eine angenehme und gewinnende Art besitzt, mit der sie meine negative Stimmung schnell vertrieben hat, enttäuscht, weil sie mir offensichtlich nichts Bahnbrechendes darüber erzählen wird, wie Babys Konzepte entwickeln.

      Sie fragt mich, ob ich die Texte gelesen habe, die sie mir geschickt hat, und ich sage, ja. Alle drei.

      »Ich wollte Sie noch zum Gebrauch des Wortes ›Repräsentationen‹ fragen. Sie sagen in Ihrer Studie, dass Sie herausfinden wollen, wie lange ein Kind braucht, um ein Gesicht zu encodieren und eine Repräsentation dieses Gesichts zu etablieren.«

      »Genau, das dauert länger als bei Erwachsenen. Erwachsene erkennen ein Gesicht innerhalb von Millisekunden; ein kleines Kind braucht dafür länger. Eine Sekunde vielleicht, oder anderthalb, im Alter von neun Monaten.«

      »Aber in beiden Fällen gehen Sie also davon aus, dass es einen Code und eine Repräsentation gibt?«

      Diese Frage erzeugt ein kurzes Schweigen. Dann sagt sie: »Das sind die Begriffe, mit denen wir die Tatsache beschreiben, dass das Kind von diesem Moment an anders auf das Gesicht reagiert, weil es das Gesicht schon einmal gesehen hat.«

      »Aber es gibt keine Repräsentation im Kopf des Kindes. Ein Bild des Gesichts im Kopf, das vom Gesicht auf dem Bildschirm getrennt ist.«

      »Nein, so meinen wir es nicht.«

      Ich bin verwirrt. Was ist eine Repräsentation, wenn nicht ein Bild von etwas, das von diesem Etwas getrennt ist? Was ist ein Code, wenn nicht etwas, das dazu dient, eine verschlüsselte Version von etwas anderem zu erzeugen? Warum verwenden sie diese Worte, wenn das gar nicht gemeint ist?

      »Es gibt also keinen Code und auch kein Bild, die im Gehirn abgespeichert sind?«

      Dies wäre vielleicht der passende Moment, Alles steht Kopf zur Sprache zu bringen, wo Rileys Erinnerungen in verschlossenen, semi-transparenten Kugeln, jede so groß wie ein Krocketball, aber in verschiedenen Farben, die für verschiedene Gefühle stehen, aufbewahrt und in Regalen gelagert werden, die sich in einer Art riesigem, blitzsauberem Körperarchiv befinden. Aber ich fürchte, Professor Pauen könnte die Erwähnung des Pixar-Films als respektlos empfinden.

      Sie überlegt inzwischen und seufzt. Hinter ihrer Arbeit stecke kein philosophisches oder metaphysisches Anliegen, erklärt sie. Sie und ihr Team versuchten nicht, die ultimativen Fragen zu Gedächtnis oder Bewusstsein zu beantworten. Was tatsächlich im Kopf geschieht oder nicht geschieht, wenn diese Hirnströme auftreten, vermag sie nicht zu sagen. Wofür steht eine N170-Komponente oder eine N160? Oder eine P1? Das sind nur Wellen negativer oder positiver elektrischer Potenziale – EKPs genannt, ereigniskorrelierte Potenziale –, die eine bestimmte Anzahl von Millisekunden – 170, 160 – nach einem Vorfall, oder »Ereignis«, wie dem Erblicken eines Gesichts auftreten. »Wir können nicht sagen, was das bedeutet oder wie es funktioniert, auch wenn die Neurowissenschaftler natürlich ihre Theorien haben.« Sie sei Kinderpsychologin, betont sie. »Was wir sagen können, ist, dass ein Muster besteht, nach dem die Reaktion eines neun Monate alten Babys auf ein Gesicht, das es zum zweiten Mal sieht, weniger ausgeprägt ist als beim ersten Mal. Oder zumindest ist das so, wenn es sich um das Gesicht einer Frau handelt; bei Männergesichtern hin gegen ist es nicht so.«

      »Und Sie schließen daraus, dass die Kinder Kategorien unterscheiden können. Aber vermutlich wissen sie nicht, dass sie Kategorien unterscheiden.«

      »In mehreren Experimenten haben wir verschiedene typische Reaktionen auf Gegenstände, Tiere und Menschen aufgezeichnet, und auf Männer und Frauen, die ein Bewusstsein für unterschiedliche Kategorien nahelegen. Und zwar schon in einem früheren Alter, als man zuvor angenommen hatte. Daher handelt es sich hier um bahnbrechende Erkenntnisse.«

      »Könnte es nicht einfach so sein, dass Männer und Frauen und Tiere verschieden sind und deshalb unterschiedliche Reaktionen auslösen, ohne dass das Kind dafür Kategorien erschaffen muss?«

      »Es ist aber so, dass diese unterschiedlichen Reaktionen im Alter von zum Beispiel sechs Monaten nicht auftreten. Da unterscheidet das Baby nicht. In diesen drei Monaten hat sich also etwas verändert, und jetzt reagiert das Kind auf männliche und weibliche Gesichter mit unterschiedlicher Intensität.«

      »Wenn Sie es dazu bringen können, sich auf die Fotos zu konzentrieren.«

      »Genau.«

      Um die Stimmung locker zu halten, bemerke ich, dass ich oft selbst Schwierigkeiten hätte, Männer und Frauen voneinander zu unterscheiden.

      Professor Pauen lacht und stimmt mir zu. Sie erklärt, dass die Fotos, ehe sie den Kindern gezeigt werden, von einer Reihe von Psychologiestudenten betrachtet werden, die sie in feminin und maskulin einstufen; alle uneindeutigen oder androgyn wirkenden Gesichter werden aussortiert.

      »Sind sich die Studenten in ihrer Einstufung einig?«

      »Meistens ja.«

      »Dann unterscheiden die Babys im Grunde gar nicht zwischen Männern und Frauen, sondern zwischen einer kulturellen Norm von Weiblichkeit und Männlichkeit, die eine Gruppe von Psychologiestudenten festgelegt hat.«

      »Stimmt, es kommt uns nicht darauf an, ob ein Baby einen Transvestiten von einer Frau unterscheiden könnte, sondern ob die Kinder mithilfe der Erfahrungen in ihrem Umfeld ein allgemeines Konzept von Frauen und Männern entwickelt haben. Deshalb arbeiten wir bei diesem speziellen Experiment auch mit kaukasischen Gesichtern, das heißt mit Gesichtern, die den gleichen ethnischen Hintergrund haben wie die Familien der Babys. Wir wollen nur herausfinden, wann Babys sich dieser Kategorien bewusst werden, und da sie nicht sprechen können, bestimmen wir es anhand ihrer neurologischen Reaktion auf die Gesichter. Wir möchten außerdem wissen, ob sie ein Gesicht wiedererkennen, das heißt, ob sie wissen, dass sie es schon einmal gesehen haben. Und alle Versuche lassen anhand der verminderten Stärke der Gehirnwellenreaktionen beim zweiten Anschauen vermuten, dass sie das Gesicht tatsächlich wiedererkennen, dass sie sozusagen schon an es gewöhnt sind.«

      »Aber bedeutet Wiedererkennen, dass sich das Gehirn verändert hat? Dass die kurze Betrachtung eines Gesichts etwas im Gehirn verschoben hat und es deshalb beim zweiten Mal anders reagiert?«

      »Wenn Sie es so ausdrücken wollen, ja. Darin zeigt sich die unglaubliche Plastizität des Gehirns. Es hat sich angepasst, damit es weiß, dass es das Gesicht schon einmal gesehen hat.«

      »Aber weiß das Kind es? Ich meine, das Gehirn des Babys reagiert anders, aber ist dem Baby bewusst,