Tim Parks

Bin ich mein Gehirn?


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nicht die Person, die recht hat, wirklich recht hat, wenn Sie verstehen, was ich meine, sondern die Person, die alle davon überzeugt, dass sie recht hat. Jedenfalls faktisch. Also was Reputation und Forschungsgelder angeht. Für sich alleine recht zu haben bringt gar nichts. Niemand gibt einem Geld, solange man die anderen nicht ins Boot geholt hat.

      »Vergiss die Regenbogen«, verkündet Riccardo, »und nimm mal einen Apfel, einen ganz einfachen Apfel.«

      Er zeichnete einen. Mit einem üppigen Blattbüschel am Stiel.

      In Klammern sollte ich hier anfügen, dass dies der einzige Pub in Mailand ist, der London Pride serviert, das regelmäßig per Lkw durch den Tunnel, über die Alpen und bis in die norditalienische Tiefebene gebracht wird. Deshalb fühle ich mich hier besonders zu Hause – der Laden heißt La Belle Alliance –, ein Gefühl, das ich im Mund und im Bauch spüre, so als wäre ein Teil meiner Jugend in London über vierzig Jahre später in Italien wieder aufgetaucht. Das Gefühl ist sehr körperlich, und während ich an die Bar gehe und ein Pint Pride bestelle (denn hier benutzt man Pint-Krüge, keine metrischen Einheiten), würde ich zwar nicht sagen, dass ich den Geschmack schon auf der Zunge habe, aber ich spüre doch diese wunderbare Vorfreude auf das Wiedererkennen, ähnlich wie bei Lucia am Flughafen; das Geschmackserlebnis steht unmittelbar bevor, und gleich werde ich ins London der 1970er-Jahre zurückversetzt. Das einzige Problem ist nur, dass sie die Musik oft zu laut aufdrehen, sodass wir im Augenblick mit den Klangwellen von Creedence Clearwater Revival bombardiert werden – noch mehr Erinnerungen: »Rolling on the river«, »Proud Mary« –, während Riccardo mir seine neue und, da ist er sich ganz sicher, endgültige Position erklärt.

      »Also, du siehst hier einen Apfel. Okay? Nennen wir deine Erfahrung mal E.«

      Wie alle, die Philosophie studiert haben, hat Riccardo immer das Bedürfnis, alles mit Buchstaben zu versehen – P, Q, X, Y –, und wie alle, die über keine formale Bildung in Logik oder Philosophie verfügen, empfinde ich das als verwirrend, unnötig und als absichtlichen Versuch, eine Lehrer-Schüler-Beziehung aufzubauen, in der ich natürlich der Schüler bin. Meine Gespräche mit Riccardo sind zugleich auch Kämpfe mit Riccardo. Ich werde nicht den blinden Glauben an die eine Autorität abschütteln, nur um mich mit Leib und Seele einer anderen zu verschreiben.

      »Also, was sind die Eigenschaften von E?«, will er wissen. Und ohne auf eine Antwort zu warten, verkündet er: »Rot, rund und apfelig. Okay?«

      Ich würde gerne widersprechen, aber mir fällt kein Einwand ein. Es ist unbestreitbar. Das ist unsere Erfahrung des Apfels.

      »Ein bisschen Grün«, werfe ich ein. »Ein bisschen Glanz.«

      »Das meinte ich mit apfelig!« Er runzelt die Stirn. »Wir sind uns doch darüber einig, dass Erfahrung physisch sein muss und daher zwangsläufig irgendwo existiert, oder? Stimmt’s? Wir akzeptieren die Idee eines mysteriösen Geistes oder einer mysteriösen Substanz jenseits unseres Horizonts à la David Chalmers nicht. Auch keinen kartesianischen Geist in der Maschine. Keine unsichtbaren Sachen, die keiner sieht. Und keine magische Supervenienz mit freundlicher Genehmigung von Dennett, Bloch, Clark und Konsorten, Bewusstsein als etwas, das einfach so erscheint, wie ein Dschinn aus der Flasche, weil jede Menge neuronale Vorgänge am Werk sind. Stimmt’s?«

      »Stimmt« (zögerlich). Tatsächlich finde ich es wirklich niederschmetternd, den Prozessgedanken verwerfen zu müssen. Er kam mir äußerst sinnträchtig vor. Ich hatte mich daran gewöhnt. Man war damit allein auf weiter Flur, aber diese Flur hatte auf mich wissenschaftlich fundiert und leicht erklärbar gewirkt. Prozess ist kein Wort, für das man sich schämen muss. Sehr viel von dem, was wir glauben, hat mit Gewohnheit und Bequemlichkeit zu tun.

      »Gut!«

      Riccardo, das sollte ich erwähnen, ist ein großer Mann, der regelmäßig joggt und Sport treibt. Er besitzt eine starke körperliche Präsenz, sodass neben dem rhetorischen auch ein beinahe physischer Druck entsteht, wenn er in Fahrt kommt. Aber das ist ermutigend. Er vergisst nie, dass wir körperlich anwesend sind und dass es bei dem, worüber er spricht, eben auch darum geht, dass wir anwesend sind, den Fluss hinunterfahren, wie Creedence Clearwater immer noch eindringlich singen.

      »Nimmt man also diese apfeligen Eigenschaften meiner Apfel-Erfahrung, welche Kandidaten kommen da zur Verortung dieser Erfahrung infrage? Mir fallen drei ein.«

      Und er schreibt die Liste auf die Rückseite des Pizza-Tischsets.

      N = neuronale Aktivität.

      O = der Apfel, das Objekt.

      P = der Prozess, der eine ununterbrochene Kette von Aktivitäten ist, die N und O verbinden und einschließen.

      »Und was ist die beste Wahl?«

      Er blickt auf und grinst.

      »Ich hätte kein Problem damit, beim Prozess zu bleiben, Riccardo. Mir ging es damit bestens.«

      Er schüttelt den Kopf.

      »Schauen wir sie uns einen nach dem anderen an. Kandidat N. Neuronale Aktivität ist grau, blutig und schleimig, stimmt’s? Sie ist nicht rund und apfelig und rot. Du kannst so lange in unsere Köpfe schauen, wie du willst, du wirst dort weder Äpfel noch irgendetwas Ähnliches, noch Bilder von Äpfeln noch Apfelgeruch noch supervenierende Äpfel finden, und auch keine magischen Äpfel.«

      »Schlechte Wahl also.«

      Aber darüber sind wir uns schon seit Langem einig.

      »Also weiter zu Kandidat O, dem Objekt, in diesem Fall dem Apfel. Äpfel ähneln Äpfeln sehr stark, nicht wahr, und auch unserer Erfahrung von Äpfeln, oder? Sie sind extrem apfelig.«

      Dem lässt sich schwer widersprechen, aber ich habe immer noch nicht kapiert, worauf er hinauswill. Ich muss kurz an die Szene in Indiana Jones und der letzte Kreuzzug denken, in der Indiana entscheiden muss, welcher von einer Reihe von Kelchen der Heilige Gral ist. Wir dürfen hier keinen Fehler machen.

      »Und schließlich Kandidat P, der Prozess. Was meinst du? Ein immens komplizierter Kandidat, sogar noch komplizierter als die neuronale Aktivität, denn er schließt die neuronale Aktivität ebenso mit ein wie jede Menge andere Sachen. Wir haben die Oberfläche des Apfels, die Lichtstrahlen reflektiert, wir haben die physikalischen Quanten, die unsere Retina bombardieren, hyperpolarisiert an den Rezeptoren, dahinter depolarisiert, wir haben Nervenimpulse, die dank einer Million Synapsen in die verschiedenen Hirnregionen ausschwirren, und dann noch die äußerst geschäftigen Neuronen. Ähnelt das deiner Erfahrung des Apfels?«

      Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

      Riccardo seufzt. »Wenn wir aufzeichnen, was in deinem Gehirn vor sich geht, wenn du den Apfel betrachtest, dann sehen wir alle möglichen Fluktuationen und Schwingungen. Entsprechen die deiner Erfahrung des Apfels? Fluktuiert und oszilliert er?«

      »Nein.« Hier fühle ich mich auf sicherem Boden.

      »Wenn du den Apfel anschaust, bleibt er, wo er ist.«

      »Ja.«

      »Still.«

      »Still.«

      »Er rollt nicht herum, es sei denn, wir stoßen ihn an.«

      »Nein.«

      »Deine Pupillen, die Teil des Wahrnehmungsprozesses sind, bewegen sich ununterbrochen hin und her. Aber du erlebst diese Bewegung nicht.«

      »Nein.«

      »Wenn du schaust, erlebst du nicht, wie deine Augen sehen.«

      »Ich glaube nicht.«

      »Du siehst den Apfel.«

      »Genau.« Ich betrachte seine Zeichnung auf dem Tischset.

      »Du erlebst dein Gehirn nicht.«

      »Scheint nicht so, nein.«

      »Tatsächlich gehört das Gehirn, in dem diese ganze Erfahrung angeblich stattfindet, zu den Körperteilen, die wir am wenigsten erleben. Habe ich recht? Du spürst dein Gehirn nicht so, wie du deinen Arm spürst.«