der in seinem so grundlegenden dramaturgischen Modell die Bedeutung des Variants überaus deutlich sieht – ohne den Variant verliert sich die reflexive Gesamtkonstruktion – verweist noch auf die Unspielbarkeit (vgl. Allemann, 2005: 111-114), die mittlerweile durch zahlreiche Aufführungen praktisch widerlegt wurde: Die erste Widerlegung war bekanntlich die von Klaus Kanzog als paradigmatisch verstandene von Dieter Dorn (vgl. Kanzog, 1988: 328). Ausgeklammert wurde nach dem Weimarer Reinfall in der Rezeptionsgeschichte ausgerechnet das Drama der Frau, das nach dem Drama um das männliche Begehren im Status post, am Tag danach, als unnötiger Anhang verstanden wurde.
Die gebotene Kürze erlaubt keine Analyse des Variants insgesamt, herausgreifen möchte ich das perfide Eindringen Adams in Eve. Dramaturgisch wird sie zu Beginn des Variants geschickt, ohne Rücksicht auf die Logik des Stücks, ins Zentrum gerückt, um ihr Spiel entfalten zu können. Ihr Schweigen entpuppt sich als Gegenlist zur List Adams und erweist sich als berechnet. Walters Aufgabe durch den Variant hindurch ist es, die durch Adam in ihr organisierte Gedankenwelt wieder aufzulösen, was erst durch den heute nicht mehr rekonstruierbaren Schluss gelingt. Adam, der abwesend Anwesende, zeigt sich im Variant nicht mehr als ungeschickter, fast liebenswerter Begehrender im Sinne des Ecce homo, sondern als perfider Vollstrecker einer Kunst des Täuschens. Im Innen der anwesenden Eve wird das Innen des abwesenden Adam sichtbar, das während seiner beredten Anwesenheit stets verborgen blieb. Zu überwinden hat Eve eine in ihr erzeugte geschickte Konstruktion eines Anderen, die für sie in ihrer Nicht-Überprüfbarkeit zu einem Glaubenssatz wurde. Erst als die Sätze des Adam in ihr verlöschen, wird das lustspielhafte Ende möglich und kann die Grenzüberschreitung des Richters zurückgewiesen werden. Dass Kleists Figuren psychisch in den anderen eindringen, lässt sich nicht nur für den Variant festhalten, die Grenze zwischen Innen und Außen wird in seinen Stücken durchgehend brüchig. Kleists Spiele an der figuralen Grenze bieten in diesem Sinn reichlich Stoff für weitere Reflexion, an der auch aktuell trotz komplexester mathematischer Grenzmodelle kein denkbarer Weg vorbeiführt.
Der zweite Punkt betraf das Begehren sowie die cartesianische Klarheit und Wohlunterschiedenheit. Der Riss durch die Zweckrationalität des Menschen, für die Moderne prominent verbunden mit Sigmund Freud, zeigt sich bei Kleist als Schau-Spiel verschiedener Formen des Begehrens, die das gesprochene Wort zurücknehmen sowie auf das unaussprechliche Andere verweisen.
Wenn im Käthchen, in II, 1, an einer der wenigen monologartigen Stellen der Kleistschen Theatralik, der Graf Wetter vom Strahl sein eigenes Verhalten während des vorangegangenen Verhörs formuliert, wird die Diskrepanz zwischen abgeschlossenem Sprachverhalten und begehrender Struktur für einmal verbalisiert. Seinem Auftreten im Verhör werden die inneren Gefühle dem Käthchen gegenüber inklusive seines Begehrens gegenübergestellt, allerdings, als wichtiger Unterschied zur Klassik, soweit es ihm präsent ist. Ein umfassend dargestellter Innenraum ist in Kleists Theaterwelt undenkbar. Diese Deutlichkeit gönnt er den LeserInnen ansonsten in keiner Weise und Klarheit ist seinen Figuren durchgehend fremd. Das rezeptive Suchfeld ist von Kleist in der Mehrdeutigkeit angelegt, er ist ein Meister im Auslegen von Spuren möglicher Bedeutungen, wobei Klarheit und Wohlunterschiedenheit der Analyse stets nur auf Kosten der Vernachlässigung anderer Spuren ermöglicht wird.
Ob Penthesilea und Achilles, der Kurfürst, Nathalie und Homburg oder auch Alkmene und Jupiter: die Beziehungen stehen fern der Zweckrationalität und fern der Eindeutigkeit, ein entscheidender Teil der dramaturgischen Energie wird stets dazu verwendet, geschickt zu polysemieren. Wer den Homburg genau liest, wird um sein übereiltes Eingreifen ein Geflecht möglicher Gründe entdecken, die gegeneinandergehalten werden und sich nur gewaltsam auflösen lassen. In den Figuren selbst ist das Scheitern nach Eindeutigkeit und Klarheit suchender Interpreten angelegt, sodass die Rezeptionsgeschichte zur Geschichte einer fortlaufenden Entlarvung zu eng gesetzter Lesarten wird. Bedeutungen verlieren sich so wie der Prinz von Homburg in der Exposition den vermeintlichen Traumgestalten nachsinnt, deren Realität ihm entschwindet.
Zur Zurückweisung einer zu einfachen Vorstellung der Vernunft, auch bezogen auf die Rationalisierung der Geschichte, den dritten genannten Punkt, möchte ich zunächst auf eine markante Neuerung durch das Kleistsche Theater eingehen. So wie seine Figuren sich nicht aussagen, explizieren seine Stücke nicht, sondern erweisen sich als Experimente der Visualisierung. Am deutlichsten wird dies im Vergleich der späteren Dramaturgie zur Familie Schroffenstein. In seinem Erstlingswerk behandelt Kleist u. a. die Frage der diskursiven Produktion von Gewaltphänomenen. Über weite Strecken zeigt sich dieses Drama als erörterndes, in guter Tradition der Aufklärung, bis in der Schluss-Szene die sprachlich logische Ordnung aufgegeben wird. Ludwig Tieck sprach im Vorwort seiner Kleistausgabe vom Misslingen dieser Szene (vgl. Tieck, 1826: 34), die doch charakteristisch für die weitere Dramaturgie werden sollte. Von der sich aussagenden Struktur in den sprachbestimmten Langszenen der Familie Schroffenstein wird Kleist am Ende, im Prinz von Homburg, Bilder festhalten und sich von einer aussagenden Dramaturgie abtrennen. Vielleicht wäre er, die Familie Schroffenstein spricht hier eher dafür, sogar ein erfolgreicherer aufklärerischer Dichter geworden, aber ab der Schlussszene gibt es keinen Bedarf mehr daran – die Konstruktion erwies sich offensichtlich als deutlich zu einfach. Er wird die Elemente fortsetzen, die bei sehr genauer Betrachtung schon im Erstling das Aussagende fortlaufend übertönen.
Über den Somnambulismus des Homburgs und des Käthchens oder die Transgression der Penthesilea findet allerdings keine Verabschiedung vernünftigen Denkens zu Gunsten einer romantischen Verzauberung statt, sondern wird eine Erweiterung der Vernunft implementiert, zugunsten der Komplexität, die sich programmatischer Aussagen verweigert.
Für die Gegenüberstellung von Rationalisierung der Geschichte und Instrumentalisierung des Einzelnen versus Kontingenz, wie sie Arbogast Schmitt aufwirft, ist an die frühere Kleist-Forschung etwa in den 1970er oder 80er Jahren zu erinnern, die intensiv den Einzug der Kontingenz in die Dramengeschichte mit diesem Autor erforschte. Kleist verfolgt, wie mehrfach festgehalten, in Erzählungen und Dramen eine Strategie einer teils radikalen Kontingenz,1 die auf die aristotelische poetische Kategorie der Wahrscheinlichkeit wenig Rücksicht nimmt, sodass auch von dieser Seite sein dramatischer Kosmos eine höhere Äquivalenz zur kontingenten Realität aufweist als zu den Konstrukten der Wahrscheinlichkeit in zahlreichen traditionelleren Theaterformen.
Als letzten Punkt hatte ich die Körperlichkeit und den Charakter des Ereignisses herausgegriffen, mit denen sich Kleist von der cartesianischen Moderne fortbewegt. Volker Klotz versucht zu zeigen, wie der Sosias des Amphitryon als radikaldramatische Figur Theater unmittelbar über Körperlichkeit zur Anschauung bringt (vgl. Klotz, 1996: 76). Was für die Figur des Sosias im vorliegenden Kontext besonders ins Auge sticht, ist die von Molière übernommene und gesteigerte ironische Descarteskritik. Wenn Sosias sich über göttliche Schläge seiner selbst versichert, so geschieht dies nicht in rationaler Form. Er durchstreift mehrere Möglichkeiten der Selbstvergewisserung – Name, göttliche Ordnung, soziale Funktion und vor allem Erinnerungen als rein privates Wissen –, bis er zu dem Punkt gelangt: «Man muß, mein Seel, ein bißchen an ihn [das zweite Ich] glauben» (Vs. 321).2 Den von Descartes ausgeschlossenen Wahn sowie die Möglichkeit der Nicht-Identität bricht Kleist ironisch:
Träum’ ich etwa? Hab ich zur Morgenstärkung
Heut mehr, als ich gewöhnlich pfleg’, genossen?
Bin ich mich meiner völlig nicht bewußt?
[...]
Nahmst du den Stock zur Hand nicht, und zerbläutest
Auf das unmenschlichste den Rücken mir,
Mir ins Gesicht behauptend, daß nicht ich,
Wohl aber du Amphitryons Diener seist.
Das Alles, fühl ich, leider, ist zu wahr nur;
Gefiel’s den Göttern doch, daß ich besessen wäre.
(Vs. 278–296, Hervorhebungen von Vf.)3