der Sonnengott Helios. Agnes in Die Familie Schroffenstein erhielt Attribute der Jungfrau Maria und der Cherubim. In Der zerbrochene Krug spiegelten die beiden Namen Adam und Eve das Geschehen im Garten Eden wider. Käthchen von Heilbronn zeigte eine weibliche Figur, deren Erscheinung wie Maria, Maria Magdalena und Aphrodite in ein Bild zusammengefasst aussah. Insgesamt lassen sich im Werk Kleists viele Erscheinungen von Engeln und Cherubim auflisten.
Neben die Überhöhung des Menschen auf die Stufe der Engel oder der Gottheiten stellte Kleist die Erniedrigung des Menschen zum Tier. Das bekannteste Beispiel dürften Penthesilea, die mit ihren Hunden gleich einem gierigen Hund den Geliebten kannibalisch verzehrte, und Käthchen sein, die wie ein Hund dem Geliebten folgte (Klüger, 1993). Käthchen entstieg dem Bad in der Grotte als ein Schwan. In Robert Guiskard erschien der Held als kranker Löwe. Achill verwandelte sich in die Figur des Aktäons und erlitt dessen Schicksal, Ähnliches drohte in dem Gedicht Der Schrecken im Bade. Graf Strahl nahm die Rolle eines verliebten Käfers ein. So erhielt der Beischlaf zwischen Käthchen und Graf Wetter unter dem Holunderbaum – Symbol für den Ort, an welchem sich Judas erhängte – eine animalische Komponente. Im der Herrmannschlacht agierten die Römer als Wölfe. Rupert in Die Familie Schroffenstein nannte den Krieg eine Jagd auf Schlangen und Wölfe (Schmid, 1974: 79-87; Münster, 2004).
Die Stufenfolge der Wesen wusste auch von der anthropologischen Zerrissenheit, vom Leben an den Grenzen. Es sei, so Kleist, der arme herzdurchglühte Mensch, dessen Herz und Vernunft beständigem Irrtum und Wirrungen unterliege. In seiner Anthropologie lebte der Mensch unsicher in Beschränkungen, an den Grenzen der Reiche der Natur und des Göttlichen mit der Tendenz, diese Grenzen zu überschreiten. Das Paradies war verlassen, der Naturzustand nicht mehr erreichbar, das Glück des himmlischen Elysiums weit entfernt. Friedrich Schiller hatte in Über naive und sentimentalische Dichtung auf den Riss in der Welt hingewiesen. Schillers Ausweg bestand in der Suche nach dem Elysium. Friedrich Schlegel hatte in Über das Studium der Griechischen Poesie diesen Weg verschlossen und auf die unendliche Perfektibilität der Moderne verwiesen. Kant zeigte auf, dass der Mensch lediglich die Phänomene, nie aber das Sein erkennen könne, allenfalls mittels des Gefühls (Affektes) eine leise Vorahnung erhaschen könne. Käthchen geriet dem Ding an sich ganz nahe, da sie wie eine «fünfdrähtige» Marionette handelte. Es sei, so Kleists Konklusion, eine Welt des «Als-Ob», in welcher der Mensch leben müsse und zu keiner Versöhnung der Widersprüche gelangen könne. Weder Vernunft noch Gefühl könnten die Welt erklären, ihr ihren Sinn verleihen. Daher vertrat Kleist eine Anthropologie des Risses in der Welt und durch den Menschen, der am Ende nur noch verstümmelt leben könne. Ein Beispiel hierfür wäre Penthesilea, die Achill die Brust reichen will, die sie sich als Kriegerin abgeschnitten hatte.
Der Riss bestimmte nicht nur das Leben. Die Grenze zwischen Mensch und Tier, zwischen Gott und Mensch blieb zwar opak für Kleist, aber sie war nicht in der Welt überschreitbar. Der göttliche Wille, so sagte es Sylvester in Die Familie Schroffenstein, lenkte für den Menschen unerkennbar die Welt. Am Ende blieb nur eine Figur aus der Gnosis übrig: Der Deus absconditus, der verborgene Gott, der nicht erkennbar ist, wohl aber durch seine Boten in die Welt wirken kann. Jupiter im Amphitryon donnerte die Figur des menschlichen Amphitryon an, als dieser Auskunft über die Gottheit verlangt hatte: «Das Licht, der Äther, und das Flüssige, / Das was da war, was ist, und was sein wird» (Kleist, 1994, I: 318).
Welche Antwort auf diese Unsicherheit und Ungewissheit gab die Anthropologie Kleists? Welches sollte nun das Telos des Menschen sein? Johann in Die Familie Schroffenstein fasste den Weg zusammen: «Ins Glück? Es geht nicht Alter. ‚S ist inwendig / verriegelt. Komm. Wir müssen vorwärts» (Kleist, 1994, I: 148). Den Übergang ermöglichte nur eines: der Tod. Hier schließt sich der Bogen zum Glück. Penthesilea schwärmte auf der Bühne: «Ich bin so selig, Schwester, überselig! / ganz reif zum Tod o Diana, fühl ich mich» (Kleist, 1994, I: 421). Die Glückseligkeit scheint erreichbar zu sein, wenn der Mensch sich in einen Gott verwandelt, so jedenfalls die Vorstellung Penthesileas. Auch Kleists Seele, so schrieb er im Abschiedsbrief an Marie von Kleist und wiederholte fast wörtlich seine Protagonistin, sei ganz zum Tode reif geworden, habe die Welt, die Erde, das Ganze und Einzelne überwunden (Kleist, 1994, II: 885). Der Erlösungsschritt der Gnosis wurde im November 1811 vollzogen. In Freude und unaussprechlicher Heiterkeit wolle er sterben, so hieß es im letzten Brief an Ulrike von Kleist. Zur gleichen Zeit träumte er gegenüber Sophie Müller: «Wir, unsererseits, wollen nichts von den Freuden dieser Welt wissen und träumen lauter himmlische Fluren und Sonnen, in deren Schimmer wir, mit langen Flügeln an den Schultern, umherwandeln werden. Adieu!» (Kleist, 1994, II: 886). Der Übergang ins Jenseits, in die Welt des Göttlichen, blieb auch noch in diesem Augenblick eine Inszenierung des Als-Ob. Denn das wahre Glück liegt erst auf der anderen Seite, die Grenze muss ganz überschritten sein. Bis in den eigenen Tod hinein hielt Kleist an der Theorie der Stufenleiter der Wesen fest. Im Amphitryon vermutete Kleist, dass sich die Perspektive vollständig ändern würde. In diesem Stück galt: Aus der Sicht des Menschen schien die Welt eine Tragödie zu sein, in welcher die Seele besser im Zustand der ewigen Umnachtung bleiben sollte, aus der Sicht des Gottes erwies sich das Stück als eine Komödie, die Jupiter mit den Menschen spielte. Und für die Zuschauer war es eine Reflexion über die Seele und ihr Verhältnis zu Gott und der niederen Natur. Nur, indem der Mensch, so wie es die beiden Gesprächspartner in Über das Marionettentheater entdeckten, erneut vom Baum der Erkenntnis essen würde, könne er den Stand der Unschuld und Reinheit erlangen, der den Göttern eigen sei (Weihe, 2003). Schein und Sein würden sich im neuen Paradies versöhnt haben. Daher soll die Gottheit, auf deren Wort Kleist zu vertrauen schien, das Schlusswort erhalten: «Und im Olymp empfang ich dann den Gott» (Kleist, 1994, I: 319).
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