AAVV

Heinrich von Kleist


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der Vervielfachung, nicht nur einer einfachen Verdopplung, wie sie Fritz Martini für das Käthchen von Heilbronn annahm, könnte sich direkt auf die Forderung von Friedrich Schlegel im Athenäums-Fragment Nr. 116 nach einer Potenzierung des Lebens und der Literatur beziehen (Martini, 1976: 428 ff.; Schlegel, 1988, Fragm. 116). Kleist interpretierte die erscheinende Wirklichkeit durch die Literatur, die ihrerseits die Literatur kommentierte. Er interpretierte die Parisreise: «... und nun sehe ich mich auf einer Reise ins Ausland begriffen, ohne Ziel und Zweck, ohne begreifen zu können, wohin das mich führen würde – Mir war zuweilen auf dieser Reise, als ob ich meinem Abgrunde entgegen ginge» (Kleist, 1994, II: 667). Die Figur eines Geschehens «Als-Ob» und die Plötzlichkeit als möglichen Wendepunkt im Leben (Peripetie) waren literarisch schon ausgeprägt spätestens bei Augustinus. Es deutet sich an, dass Kleist das Motiv der romantischen Todessehnsucht in einer potenzierenden Intention für die Selbstinszenierung aufgegriffen habe.

      Auch die politischen Ambitionen Kleists erfordern ein Fragezeichen hinter den scheinbar klaren Aussagen. Im Dezember 1805 schrieb er an von Lilienstein: «Ja, mein guter Rühle, was ist dabei zu tun. Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts, als bloß den Umsturz der alten erleben» (Kleist, 1994, II: 761). Bekräftigt wurde das Interesse an der Politik im Brief an Karl Freiherrn von Stein (Dresden, 1. Januar 1809): «... so will ich lauter Werke schreiben, die in die Mitte der Zeit hineinfallen» (Kleist, 1994, II: 820). Das Ergebnis waren Lobreden im hohen Stile, Lehrbücher und Katechismen, Proklamationen, fiktive Briefe, operative Gattungen wie Fabeln und Satiren, Programme und Essays sowie eine aggressive Kriegslyrik (Kriegslied der Deutschen, Germania an ihre Kinder). Die operative Begrenzung dieser Gattungen wurde Kleist als sprachkritischem Autor schnell klar (Essen, 2005). Kleist nahm wahr, dass ein politisches Engagement auch Lebenssinn produzieren konnte. Die Beschreibungen des auf dem Wege des Untergangs befindlichen Selbst und das politische Schreiben als Barde für den Widerstand Deutsch-lands gegen die französischen Untermenschen, die nach Kleists eigenem Bekunden nur auf der untersten Stufe von Tieren stehen würden – so Kleist im Kriegslied der Deutschen –, verweisen auf eine ästhetische Inszenierung. Anders als sein Verwandter, der preußische Offizier Ewald von Kleist, hauchte der Dichter sein Leben nicht auf dem Schlachtfeld aus.

      Es war das Verdienst des Novalisforschers Josef Kunz, auf die Modellhaftigkeit von Kleists anthropologischem Grundverständnis hingewiesen zu haben. Kunz entdeckte in der Penthesilea und der Geschichte der Marquise von O... eine Ausformung der Theorie der verschiedenen Stufen der Wesen. Kunz fasste zusammen:

      Danach gibt es also in Kleists Vorstellung verschiedene Stufen, Ebenen, Stadien des Lebens. Es gibt die Stufe der Existenz mit ihrer Entfremdung vom Grunde, mit ihrem Konflikt zwischen Vertrauen und Misstrauen, zwischen Gewissheit und Ungewissheit. Und es gibt die Stufe der Präexistenz, in die die Zweideutigkeit und Spaltung nicht hineinreichen. Der Mensch aber lebt [...] offenbar auf diesen verschiedenen Stufen des Lebens zugleich (Kunz, 1967: 684).

      Es handle sich um eine Dreistufenlehre, bestehend aus Präexistenz, Existenz, Überwindung der Krise und Ahnung der Vollkommenheit.

      Der Wesen Kette, die mit Gott begann,

      ätherisch hohe Wesen, Engel, Mann,

      Tier, Vögel, Fisch, Insekt, was Augen hier

      Nicht sehen: vom Unendlichen zu Dir,

      von Dir zum Nichts... (Pope 1993: 33).

      Immanuel Kant vertrat in der Allgemeinen Naturgeschichte ähnliche Auffassungen (Kant, 1983, I: 386 f.). Der Mensch nehme eine Mittelstellung zwischen dem Nichts und der absoluten Vollkommenheit ein. Als Mittelwesen könne er nie die Gottheit verstehen, denn der Körper ziehe ihn ins Naturreich hinab.

      Der biblische Mythos vom Sündenfall, der Kleist oft beschäftigte bis dahin, dass er empfahl, die Hintertüre des Paradieses zu suchen, erweiterte die Theorie (Kurz, 1981/82) ebenso wie der antike Mythos. Als Minimum finden sich daher in seinem Werk drei ineinander verschränkte Ebenen: Gottheiten, Menschen und Tiere. Die Gottheiten traten plötzlich ins Leben der Menschen, wie ein Blitzesstrahl. Jupiter aus dem Amphitryon oder Friedrich