wir gesehen haben, ist die thermodynamische Bedingung für ein Phasengleichgewicht, dass das chemische Potenzial einer Substanz in jeder Phase gleich sein muss. Für ein Einkomponentensystem ist das chemische Potenzial identisch mit der molaren Freien Enthalpie der Phase (μ = Gm). Aus Abschn. 3.5 wissen wir bereits, wie die Freie Enthalpie von Druck und Temperatur abhängt:
Diese Ausdrücke gelten in analoger Form auch für die molare Freie Enthalpie, und somit für das chemische Potenzial. Wir verwenden die Schreibweise für partielle Ableitungen, wie sie in „Toolkit 9: Partielle Ableitungen“ in Abschn. 2.1 vorgestellt wurde, und erhalten:
Diese Beziehung drückt aus, dass das chemische Potenzial eines reinen Stoffs mit steigender Temperatur sinkt (da immer Sm > 0 gilt, ist die Steigung der Funktion μ(T) stets negativ).
Diese Beziehung drückt aus, dass das chemische Potenzial eines reinen Stoffsmit steigendem Druck zunimmt (da immer Vm > 0 gilt, ist die Steigung der Funktion μ(p) stets positiv).
Durch Kombination dieser beiden Beziehungen für die Variation von μ mit der Temperatur bzw. dem Druck mit der Tatsache, dass die chemischen Potenziale einer reinen Substanz in jeder Phase identisch sind, sollten wir in der Lage sein abzuleiten, wie sich Phasengleichgewichte bei einer Änderung der Bedingungen verhalten.
4.2.1 Abhängigkeit der Stabilität von den Bedingungen
Bei tiefen Temperaturen und nicht zu geringem Druck hat die feste Phase eines Stoffs das niedrigste chemische Potenzial und ist deshalb die stabile Phase. Da jedoch die chemischen Potenziale der einzelnen Phasen in unterschiedlicher Weise von der Temperatur abhängen (da die molare Entropie jeder Phase unterschiedlich ist), kann bei Temperaturerhöhung das chemische Potenzial einer anderen Phase (einer anderen festen, einer flüssigen oder auch einer gasförmigen) niedriger werden. In diesem Fall findet ein Phasenübergang statt, sofern keine kinetische Hemmung vorliegt.
(a) Die Temperaturabhängigkeit der Stabilität von Phasen
Da für alle Substanzen oberhalb von T = 0 immer Sm > 0 ist, gilt gemäß Gl. (4.3a), dass das chemische Potenzial eines reinen Stoffs mit steigender Temperatur sinkt. Außerdem ist ersichtlich, dass die Steigung der Funktion μ(T) für Gase größer ist als für flüssige Phasen – wegen Sm (g) > Sm (l) – und dass diese Funktion fast immer für Flüssigkeiten steiler absinkt als für Festkörper, da bis auf wenige Ausnahmen Sm (l) > Sm (s) gilt (siehe dazu Abb. 4.13). Die Kurve fällt für μ (l) so steil ab, dass sie bei hinreichend hoher Temperatur schließlich unterhalb von μ (s) verläuft: die Flüssigkeit wird zur stabilen Phase, der Festkörper schmilzt freiwillig. Das chemische Potenzial der Gasphase fällt (aufgrund ihrer hohen molaren Entropie) mit steigender Temperatur stark ab; von einer bestimmten Temperatur an ist dann der gasförmige Aggregatzustand stabil und die Flüssigkeit verdampft freiwillig.
Abb. 4.13 Schematische Darstellung der Temperaturabhängigkeit des chemischen Potenzials der festen, flüssigen und gasförmigen Phase eines Stoffs (in Wirklichkeit sind die Linien gekrümmt). Die Phase mit dem jeweils niedrigsten chemischen Potenzial ist bei einer gegebenen Temperatur die stabilste. Bei den Übergangstemperaturen (TSm und TS) sind die chemischen Potenziale der beiden betreffenden Phasen gleich groß.
Illustration 4.9
Die molare Standardentropie von flüssigem Wasser bei 100 °C ist 86,8 J K−1 mol−1 und diejenige von Wasserdampf bei derselben Temperatur ist 195,98 J K−1 mol−1. Wenn die Temperatur um 1,0 K erhöht wird, ändern sich die chemischen Potenziale wie folgt:
Bei 100 °C besitzen die beiden Phasen identische chemische Potenziale und liegen somit im Gleichgewicht vor. Bei 101 °C sind die chemischen Potenziale des Dampfes und der Flüssigkeit geringer als bei 100 °C; das chemische Potenzial des Dampfes hat sich allerdings um einen größeren Betrag reduziert. Daraus folgt, dass der Dampf bei der höheren Temperatur die stabile Phase ist, und die Flüssigkeit verdampft freiwillig.
(b) Die Druckabhängigkeit des Schmelzpunkts
Aus Gleichung (4.3b) können wir ablesen, dass das chemische Potenzial jeder reinen Substanz mit steigendem Druck zunimmt, weil Vm > 0 ist. In den meisten Fällen gilt außerdem Vm (l) > Vm (s), sodass nach Gl. (4.3b) das chemische Potenzial der flüssigen Phase bei steigendem Druck stärker zunimmt als das der festen Phase. Die Folge ist, wie wir in Abb. 4.14a sehen, dass die Schmelztemperatur etwas ansteigt. Für Wasser gilt dagegen Vm (l) < Vm (s); ein Druckanstieg bewirkt hier für die feste Phase eine stärkere Zunahme des chemischen Potenzials als für die flüssige Phase. Dadurch sinkt die Schmelztemperatur ein wenig (Abb. 4.14b).
Abb. 4.14 Die Druckabhängigkeit des chemischen Potenzials eines Stoffs ist durch das molare Volumen der jeweiligen Phase gegeben. Die Druckabhängigkeit der chemischen Potenziale von fester und flüssiger Phase ist schematisch durch Geraden angedeutet (in Wirklichkeit sind die Linien gekrümmt); darunter sehen Sie die entsprechende Darstellung für die Schmelztemperatur. (a) In dem hier gezeigten Fall ist das Molvolumen der festen Phase kleiner als das der flüssigen Phase; daher steigt μ (s) weniger stark an als μ (l); die Schmelztemperatur nimmt zu. (b) In diesem Fall ist das Molvolumen des Feststoffs größer als das der Flüssigkeit (wie bei Wasser), μ (s) steigt stärker an als μ (l); die Schmelztemperatur wird erniedrigt.
Beispiel 4.1: Der Einfluss des Drucks auf das chemische Potenzial
Berechnen Sie, wie sich das chemische Potenzial von Wasser und Eis (jeweils bei 0 °C) ändert, wenn der Druck von 1 bar auf 2 bar ansteigt. Gegeben sind die Dichten von flüssigem Wasser (0,999 g cm−3) und Eis (0,917 g cm−3) unter diesen Bedingungen.
Vorgehensweise Aus Gl.