Mimmo Lucano

Das Dorf des Willkommens


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später erst ist mir klar geworden, dass sich mit diesem Ereignis an jenem Abend auch ein Kreis geschlossen hat. 20 Jahre zuvor war es nämlich ein anderer Roberto Lucano gewesen, der mir eröffnete, dass er mich nicht wählen würde: mein Vater.

      Man schrieb das Jahr 1995, und ich kandidierte mit einer Bürgerliste, die wir mit einigen alten Freunden zusammen aufgestellt hatten, für den Gemeinderat. Wir wollten unsere alte Heimat neu entdecken, und mit ihr die Traditionen und Werte eines Kalabrien, das sich der Identifikation mit Mafiosi und anderen Potentaten verweigerte. Es würde noch ein paar Jahre dauern, bis die kurdischen Flüchtlinge an unserer Küste stranden und damit mein Leben und auch das von Riace grundlegend verändern würden. Bis vor wenigen Monaten hatte ich zusammen mit meiner Frau und den damals noch kleinen Kindern in Turin gelebt. Die schlechten Nachrichten, die regelmäßig aus meiner kalabrischen Heimat kamen, betrübten mich sehr, bis mir eines Tages klar wurde, dass ich nicht im Norden bleiben konnte, sondern nach Kalabrien zurückkehren und meinen Beitrag für politische Verbesserungen leisten musste.

      Mein Vater Roberto war überzeugter Christdemokrat, und wir hatten immer eine konfliktreiche Beziehung gehabt. Als ich ihm von meiner bevorstehenden Kandidatur erzählte, erwiderte er nur: »Du wirst doch nicht glauben, dass ich einen wie dich wählen würde?«

      Ich dachte zuerst, er mache Witze, doch kurz nach der Wahl wurde ich zufällig Zeuge, wie meine Mutter ihm bittere Vorwürfe machte, weil er seinem eigenen Sohn die Stimme versagt hatte. Seine Antwort war schlicht: »Ach, das wäre doch Vergeudung gewesen! Die sind doch alle völlig verrückt. Sie wollen einfach nicht einsehen, dass die Welt ist, wie sie ist …«

      Mein Vater war vor seiner Pensionierung Lehrer gewesen und hatte sein ganzes Leben im Schuldienst verbracht. Die Antwort war typisch für ihn, doch sie verletzte mich trotzdem sehr. Wir gerieten in Streit, es fielen böse Worte, der Graben zwischen uns vertiefte sich. Kurz darauf endete mein erstes Wahlabenteuer mit einer Niederlage: Unsere Liste erhielt nur sehr wenige Stimmen, ich selbst nur zwei. Mein Vater hatte recht behalten.

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      Es ist viel geschehen in diesen 20 Jahren zwischen 1995 und 2014, als mir zunächst mein Vater und später dann mein Sohn, die beide den Namen Roberto Lucano tragen, die rote Karte zeigten, weil sie anders dachten als ich. Über familiäre Divergenzen hinaus zeigt es, wie tief die Gräben in der Region Kalabrien sind und wie sich von Generation zu Generation die Überzeugung verfestigt, dass an den Verhältnissen nicht zu rütteln ist, dass dieser zu Mafia-Abhängigkeit, Armut und Arbeitslosigkeit verdammte Landstrich für immer bleiben wird, wie er ist.

      Trotzdem habe ich weiter für meine Überzeugungen gekämpft, und viele Menschen sind meinen Weg mitgegangen, darunter Wissenschaftler, Soziologen, Priester, Politiker und Regisseure, Landarbeiter, Schäfer, Gewerkschafter und Prostituierte, alte und junge Menschen, Männer, Frauen und Kinder, die nur mit knapper Not dem Ertrinken entkommen waren. Ich habe mir erlaubt, einen Traum zu verfolgen, die Utopie einer neuen Normalität, inspiriert von Denkern, Philosophen und Lebenskünstlern, bekannten und weniger bekannten, die mein Leben bestimmt haben und es heute noch tun.

       CAPITOLO 4

       Fußball spielen

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      Als kleiner Junge und weit bis ins Jugendlichenalter hinein ließ ich keine Gelegenheit zum Fußballspielen ungenutzt. Jeden Tag landeten meine Freunde und ich auf der Straße und widmeten uns dem geliebten Ballsport. Um den Sport etwas ernsthafter zu betreiben, trat ich der Mannschaft des sozialistischen Vereins der »Unità Proletaria« bei.

      Um die Wahrheit zu sagen, fühlte ich mich in unserer Mannschaft oft fehl am Platz, weil ich der einzige Junge war, der aus einer »bürgerlichen« Familie stammte: Mein Vater war Lehrer und Christdemokrat, und bei mir zu Hause litt man keinen Hunger. Wir waren eine typische Mittelstandsfamilie der frühen 1970er-Jahre. In unserem Verein hingegen spielten viele Kinder von Arbeitern und vor allem Tagelöhnern, die als Erntehelfer auf den Feldern schufteten; Jungen in meinem Alter, die sich von den Idealen der libertären Linken eine realistische Möglichkeit erhofften, um ihrem Elend zu entfliehen.

      Zu unseren sommerlichen Fußballturnieren kamen also schon bald politische Debatten und Veranstaltungen hinzu. Unsere Mannschaft gehörte zum Circolo Pier Paolo Pasolini (einer der vielen Namen, den der Verein über die Jahre hinweg getragen hat) und nannte sich »Stella Rossa« (Roter Stern), und selbstverständlich trugen wir einen feuerroten Dress. Eine der besten gegnerischen Mannschaften wiederum, gegen die wir damals regelmäßig spielten, hieß »Armata Rossa« (Rote Armee). Je älter wir wurden, desto mehr trat der Sport in den Hintergrund, während unsere »politische Mission« immer wichtiger wurde. Wir führten intensive Diskussionen über Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit, was notgedrungen auch dazu führte, dass ich nicht auf die Idee kam, meine im Vergleich zu den anderen privilegierte Situation zu vergessen. Auf dem Spielfeld aber war ich bestens integriert. Alles gelang mir leicht, viele sagten mir echtes Talent nach. Vielleicht hätte ich mich an einer Karriere als Profifußballer versuchen können, aber daran hatte ich kein Interesse.

      Wie in vielen anderen Bereichen zeigte sich auch auf dem Fußballplatz, in den Wettkämpfen von zahllosen Kleinstvereinen, die damals allein in Kalabrien existierten, die gespaltene Seele der politischen Linken. Es gab die Sozialisten, es gab die Sympathisanten von »Lotta Continua«14 oder »Democrazia Proletaria«,15 zu denen auch ich gehörte, und schließlich gab es die Mitglieder der FGCI (Federazione giovanile del Partito Comunista), der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei. Ich selbst wollte keiner Partei angehören, und die endlosen Diskussionen darüber, welche Ideologie nun die bessere sei, der Marxismus, der Stalinismus oder der Leninismus, fand ich nutzlos und aufreibend.

      Zu Hause waren mein Bruder und mein Vater beide Fans von Juventus Turin, nur ich konnte, vielleicht auch aus Trotz, diesem Verein nichts abgewinnen. Ich war der Ansicht, dass mein Vater immer auf der Seite des Stärkeren stand, während ich es von jeher eher mit den Schwächeren hielt. Trotzdem haben wir über das Thema Fußball nie gestritten: Es wäre mir dumm vorgekommen, wegen einer Fußballmannschaft Streit anzuzetteln.

      Es gibt noch einen anderen Aspekt, der mir am Fußball immer gefallen hat: die Tatsache, dass er eine sehr menschliche Seite hat. Es gibt bei diesem Sport unendlich viele, kleine und große Geschichten, die meist von ganz normalen Menschen handeln, nicht nur von Champions und Supermännern. Besonders häufig sind die von Spielern, die sich durch ihre Kunst aus einem Leben in Not und Elend befreit haben, wie etwa auch ein damaliger Gefährte von mir, Trionfo, der aus sehr armen Verhältnissen kam und später in mehreren sizilianischen Mannschaften auf Profiniveau spielte. Ich hatte seinen Vater bei einer Studentendemonstration kennengelernt, die sich mit dem Protest der Waldarbeiter verband, und Trionfo kam sofort zu uns, als wir »Stella Rossa« gründeten. Obwohl er später im Profifußball spielte, ist ihm der Erfolg nie zu Kopf gestiegen.

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      Eine Geschichte, die mich ganz besonders beeindruckt hat, ist die des brasilianischen Fußballhelden Garrincha. Ein bedeutender Journalist, Gianni Minà, hat sie mir einmal erzählt, als ich ihn in seiner Wohnung in Rom besuchte, die mit den vielen Büchern und Fotografien, die ihn meist zusammen mit irgendwelchen legendären Persönlichkeiten bei der Arbeit zeigten, eh- er etwas von einem Museum hatte. Er hatte in seiner langen Karriere zahllose Regisseure, Schauspieler, Sportler und Diven interviewt, aber eben auch Mythen des Sports wie Diego Maradona und Muhammad Ali.

      Er erzählte mir damals viele Geschichten über den brasilianischen Straßenfußball, aber die von Garrincha hat mich besonders berührt. Als Sohn eines Indios und einer Mulattin ist er in ärmsten Verhältnissen aufgewachsen, ein Kind der Straße, das sich durch seine Kunst ganz nach oben in den Fußballhimmel spielte. Er litt an schweren Knochenverformungen, vielleicht infolge einer Kinderlähmung, und mit einem Bein, das sechs Zentimeter kürzer als das andere war, hatte er einen ganz eigenwilligen