und Sittenbehörden. Ihre letzte Flucht wurde 1781 ausgelöst durch Gerüchte um eine aussereheliche Beziehung mit ihrem Dienstherrn.
Doch obwohl Anna Göldi als «fremde Person» aus der zürcherischen Herrschaft Sax völlig auf sich allein gestellt war, hätte sie um ein Haar das Unmögliche geschafft. Fast die Hälfte der über sechzig Glarner Richter stimmte für ihren Freispruch.
Nach der Enthauptung von Anna Göldi im Juni 1782 überschlugen sich die Ereignisse. Deutsche Journalisten machten den Hexenprozess zum medialen Ereignis und äusserten massive Kritik daran, dass eine Frau wegen zauberischer Handlungen enthauptet worden war.
Bald darauf und für fast hundert Jahre war die Magd aus Sennwald jedoch kein Thema mehr. Das dramatische Schicksal einer einfachen Frau passte nicht ins Bild einer Schweiz, die lieber eidgenössisches Heldentum zelebrierte. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rückte der letzte Hexenprozess wieder ins öffentliche Blickfeld – Anna Göldi wurde als historische Frauenfigur entdeckt.
Heute wissen wir: Der Anna-Göldi-Prozess besiegelte nicht nur das Ende der neuzeitlichen Hexenverfolgung im christlichen Europa, dank Whistleblower Johann Melchior Kubli wurde er zum Wegbereiter für eine von Hexen und Dämonen befreite Strafjustiz und förderte den Wandel zum schweizerischen Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts.
Für Anna Göldi war es ein Martyrium. Beklemmend daran: Was ihr in einem Teufelskreis von Liebe, Verleumdung und Hass widerfuhr, ist rund zweihundertvierzig Jahre nach ihrem Tod noch immer brandaktuell.
Kapitel 1 – Hass und Gewalt zur Rettung des Christentums
Religiös begründete Gewalt gegen Frauen bringen wir häufig mit dem finsteren Aberglauben im Mittelalter oder mit islamistisch diktierten Ländern in Verbindung. Tatsache ist aber: Die Verfolgung, Folterung und Tötung von «Hexen» war auch während der Neuzeit schreckliche Realität – mitten im christlichen Europa.
Dreihundert Jahre lang tobte der Hexenwahn sowohl in katholischen als auch in protestantischen Gebieten und forderte zehntausende Opfer. Unschuldige Menschen wurden von zumeist weltlichen Gerichten mit dem Segen der Kirche gefoltert und mit dem Feuertod bestraft. Es war eine der grössten von Menschen verursachten Katastrophen im christlichen Abendland.
Zwar hatten Hexenprozesse schon früher stattgefunden, der Beginn der systematischen Verfolgung lässt sich aber auf die Zeit nach 1486 datieren, als der sogenannte Hexenhammer publiziert wurde, ein besonders fatales Machwerk. Das Buch mit dem eigentlichen Titel Malleus maleficarum war die ideologische Legitimation für den Hexenwahn, es wurde vom Elsässer Dominikanerpater Heinrich Kramer verfasst. Der Mann, der sich Henricus Institoris nannte, wurde um 1430 geboren und starb 1505. Seinem Werk prominent vorangestellt war die Hexenbulle von Papst Innozenz VIII., der Kramer zum Inquisitor für Oberdeutschland ernannt hatte. Zu dieser Region wurde damals auch die heutige Deutschschweiz gezählt.
Bis jetzt ist der Hexenhammer eines der frauenfeindlichsten und blutrünstigsten Werke der Weltliteratur. Weil das Buch in lateinischer Sprache verfasst war, konnte es in der ganzen westlichen Welt gelesen werden und fand enorme Verbreitung. Das Werk – eine eigentliche «Bibel der Hexenjäger» – erschien bis zum 17. Jahrhundert in fast dreissig Auflagen und belegt einen Spitzenplatz in der Liste der ewigen Bestseller.
Der Dominikanerpater Heinrich Kramer schuf mit seinem Hexendogma allerdings keine völlig neue Lehre. Er berief sich auf christliche Vorbilder wie Augustinus (354–430) oder Thomas von Aquin (1225–1274) und baute seinen Frauenhass auch auf biblische Geschichten auf – zum Beispiel jene von Eva, die im Paradies Adam zum Sündenfall verführte.
Neu am Hexenhammer waren der explizite Aufruf zur Gewalt und die Fokussierung auf das weibliche Geschlecht. Wie schon der Buchtitel wörtlich verdeutlicht, hatte Kramer nicht etwa Männer, «malefici», im Visier, sondern «maleficae», also eindeutig Frauen, die im Hexenhammer als Übeltäterinnen, Verführerinnen und Unholdinnen gebrandmarkt wurden. Laut Kramer waren Frauen minderwertige Wesen; sie hätten wenig Verstand und seien deshalb empfänglicher für die Verlockungen des Teufels. Sein Buch erklärte Frauen pauschal zum «Übel der Natur», zur «begehrenswerten Katastrophe» und warf ihnen Defizite im Glauben vor. Die Minderwertigkeit der Frau begründete er mit einer eigenwilligen Ableitung des lateinischen Wortes «femina» aus «fides» (Glaube) und «minus» (weniger).
Nach Kramer waren Hexen keine Fantasieprodukte dunklen Aberglaubens, sondern existierten real. Sie konnten, so seine Theorie, sich in Tiere verwandeln, auf Besen durch die Lüfte fliegen und vor allem – das war sein Angelpunkt – mithilfe Satans Schaden anrichten. Sie waren schuld an allem Bösen auf der Welt, an Hungersnöten, Naturkatastrophen und Seuchen. Kramer geisselte im Buch angebliche Vorboten einer gigantischen Verschwörung gegen Gott und die christliche Menschheit. Und er lieferte eine praktische Anleitung, wie Hexen unschädlich gemacht und ausgerottet werden sollten.
Höhepunkt des Hexenwahns in Mitteleuropa bildete der Dreissigjährige Krieg (1618–1648), als Religionskriege, Unwetterkatastrophen und Hungersnöte Europa erschütterten. In dieser Schreckenszeit breitete sich der Hexenwahn wie eine Pandemie aus. Die Hexenverfolgung war längst nicht mehr nur eine Sache der Katholiken, auch in reformierten Gegenden gingen die Behörden unerbittlich gegen Magie und Zauberei vor. Die Reformatoren Martin Luther (1483–1546) und Johannes Calvin (1509–1564) waren berüchtigt dafür, dass sie Hexenprozesse einsetzten, um die Menschen zum «rechten Glauben» zu bekehren. Es war eine Eskalation der Gewalt, hervorgerufen von einer Mischung aus Volksaberglauben und religiösem Fanatismus.
Dem neuzeitlichen Hexenwahn in Europa fielen schätzungsweise siebzigtauschend Menschen zum Opfer. Die Zahl wurde in den vergangenen Jahren relativiert und nach unten korrigiert, bringt aber ohnehin das wahre Ausmass der Tragödie nicht zum Ausdruck. Denn die Hexenprozesse rissen eine Vielzahl von Menschen ins Elend, die in keiner Statistik und in keinem Protokoll aufgeführt sind: Freunde und Verwandte der Angeschuldigten, die ebenfalls endlose Verhöre über sich ergehen lassen und Todesängste ausstehen mussten. So gesehen waren weit mehr Menschen als offiziell angegeben betroffen.
Nach dem Denunziationsprinzip konnte jede Person jede andere beschuldigen, im Bund mit dem Teufel zu stehen. Ein einzelner Fall konnte einen Rattenschwanz weiterer Klagen nach sich ziehen. In schwierigen Zeiten wurden schnell Sündenböcke ausfindig gemacht und dem weltlichen Richter ausgeliefert. Dieser hatte das Verfahren von Amtes wegen einzuleiten und mit aller Schärfe durchzugreifen.
Da Hexerei als ein besonders schlimmes Delikt galt, als «crimen magiae», war das Verfahren besonders grausam. Wer leugnete, wurde so lange gefoltert, bis ein Geständnis vorlag. Es ist naheliegend, dass auf diese Weise jedes gewünschte Beweisergebnis zustande kam. Schuldige hatten gegen die Gesetze Gottes verstossen und demzufolge nur eines verdient: den Tod auf dem Scheiterhaufen.
Obschon auch Kinder und Männer Opfer der Hexenverfolgung wurden, waren davon zu etwa achtzig Prozent Frauen betroffen. Deshalb wurde im Zusammenhang mit der europäischen Hexenverfolgung auch schon der Begriff «Frauen-Holocaust» verwendet. Das ist jedoch abwegig und gefährlich: Vergleiche mit dem Völkermord an den Juden bergen die Gefahr, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegeneinander ausgespielt und kleingeredet werden.
Zuzustimmen ist hingegen der modernen Genderforschung, die von einem gezielt gegen das weibliche Geschlecht gerichteten Massenmord spricht, von einem Femizid. Das bestätigen auch seriös geschätzte Opferzahlen. Die christlich abendländische Hexenverfolgung war in erster Linie eine Frauenverfolgung.
Zwar war die Hexenverfolgung der Neuzeit umstritten und stiess auch in kirchlichen Kreisen auf Widerstand. Bedeutende Persönlichkeiten meldeten sich kritisch zu Wort, so etwa der protestantische Theologe Anton Praetorius (1560 bis 1613), der Jesuitenpater Friedrich Spee (1591–1635), Verfasser der Cautio criminalis, und der Jurist Christian Thomasius (1655–1728). Diese ächteten in ihren Schriften die auf Folter und Geständniszwang beruhenden Gerichtsverfahren, die tausende unschuldige Menschen, vor allem Frauen, in den Tod trieben.
Doch Spee, Praetorius, Thomasius und weitere hatten einen