Walter Hauser

Anna Göldi - geliebt, verteufelt, enthauptet


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wahren wollte, musste er handeln. Unmittelbar nach der Entlassung von Anna Göldi hatte er versucht, das Problem totzuschweigen und zur Ta­ges­ordnung überzugehen. Nun setzte er alles daran, die Magd zurückzuschaffen und zur Rechenschaft zu ziehen. Dazu brauchte er die Unterstützung der Behörden, denen er selbst angehörte. Doktor Tschudi begab sich mit Verwandten und Freunden vor das Rathaus und verlangte vom Rat mit Nachdruck, dass er den Fall entschlossen an die Hand nehme. Die Drohung wirkte: Am 26. November 1781 fasste die Ob­rigkeit den Beschluss, «diese verruchte Dirne» ausfindig zu machen und verhaften zu lassen. Ein Läufer wurde mit einem Steckbrief nach Werdenberg losgeschickt, um Anna Göldi gefangen zu nehmen und ins Rathaus nach Glarus zu bringen.

      Als Doktor Melchior Zwicky aus Mollis, der Vater des zweiten Kindes von Anna Göldi, erfuhr, welcher Gefahr seine frühere Geliebte ausgesetzt war, schickte er sofort den eigenen Läufer, Jost Spälti aus Netstal, nach Werdenberg. Er sollte Anna Göldi warnen und ihr zur Flucht raten. Damit handelte Zwicky nicht ganz uneigennützig: Er musste befürchten, dass seine bis dahin geheim gehaltene uneheliche Vaterschaft auffliegen könnte.

      Zwickys Läufer führte seinen Auftrag schneller aus als der amtliche, der unverrichteter Dinge ins Glarnerland zurückkehrte. Dort überbrachte dieser der Obrigkeit immerhin eine brisante Nachricht: Er habe in Werdenberg Jost Spälti getroffen, der im Auftrag von Doktor Zwicky unterwegs gewesen sei. Die Obrigkeit liess den Molliser Arzt unverzüglich vorladen und wollte von ihm den Grund für seine Warnaktion erfahren. Zwicky sagte im Verhör, er habe Anna Göldi auf die behördliche Fahndung hinweisen wollen, weil seine Mutter in Sorge um das Schicksal der Magd gewesen sei. Von einem unehelichen Kind erwähnte er noch nichts.

      Auch Schlosser Steinmüller wollte Anna Göldi warnen und sandte am 26. November 1781, also am Tag des obrigkeitlichen Beschlusses, ein Schreiben an sie samt dem ersparten Geld, das die Magd bei ihm in Glarus zur Verwahrung zu­rück­gelassen hatte. Steinmüller ahnte die Gefahr und wollte das Geld schleunigst loswerden. In seinem Brief schrieb er: «Hier übersende Euch durch den Bott [Boten] die mir übergebenen 16 Toplonen.» Zudem teilte er ihr mit, dass Doktor Tschudi eine Fahndung gegen sie eingeleitet habe. «Ich warnen Euch als ein Ehrenmann, nehmt Euch wohl in Acht, dass Ihr nicht in Unglück komen; betet Gott um Verzeihung Eurer Sünden; thaut Bauss [Busse] in der Zeit, so wird Euch Gott der Allerhöchste erhören in der Noth.»

      Die Behörden durchkreuzten seinen Plan und beschlagnahmten das Briefpaket, noch bevor es seine Adressatin erreichte. Im späteren Prozess wurden die beiden Warnak­tio­nen ihren Urhebern angelastet. Sie wurden als Beweise dafür ausgelegt, dass Doktor Zwicky und Rudolf Steinmüller mit Anna Göldi unter einer Decke steckten.

      Als Anna Göldi die Gefahr erkannte, ergriff sie erneut die Flucht und setzte sich unter dem falschen Namen Marie Sonderegger Richtung Bodensee ab. Ihr Fluchtweg führte von Rorschach über St. Gallen und das Appenzellerland ins Tog­genburg nach Degersheim, wo sie im Wirtshaus Schäfli eine Stelle als Magd annahm. Dort verbrachte sie die letzten Wochen ihres Lebens in Freiheit.

      Am 9. Februar 1782 erschien in der Zürcher Zeitung ein Steckbrief von Anna Göldi, unterzeichnet von der Re­gie­rungs­kanzlei des Landes Glarus. Sein Inhalt:

      «Löblicher Stand Glarus, evangelischer Religion, aner­bie­tet sich hiermit demjenigen, welche nachbeschrieben Anna Göldin entdecken, und der Justiz einbringen wird, Einhun­dert Cronenthaler Belohnung zu bezahlen; womit auch alle hohe und höhere Obrigkeiten und Dero nachgesetzte Amtsleuth ersucht werden, zu Gefangennehmung dieser Person all mögliche Hülfe zu leisten; zumahlen solche in hier eine ungeheure That, vermittelst geheimer und fast unbegreiflicher Beibringung einer Menge Gufen und anderen Gezeug gegen ein unschuldiges acht Jahre altes Kind verübet hat.

      Anna Göldin, aus der Gemeind Sennwald, der Landvogthey hohen Sax und Forstek zugehörig, Zürchergebiets, ohngefähr 40 Jahr alt, dicker und grosser Gestalt, vollkommnen und rothschlechten (rötlichen) Angesichts, schwarzer Haaren und Augbrauen, hat graue etwas ungesunde Augen, welche meistens rothlecht aussehen, ihr Anschauen ist niederge­schla­gen, und redet ihre Sennwälder Aussprach (Dialekt), trägt eine modenfarbne Jüppen, eine blaue und eine gestrichelte Schos, darunter eine blaue Schlingen- oder Schnäbeli-Gestalt, ein Damastenen grauen Tschopen [damasten: aus Baumwol­le]), weis castorin Strümpf, ein schwarze Kappen, darunter ein weisses Häubli, und trägt ein schwarze Seidenbettlj [Handtasche].»

      Anna Göldi blieb keine Zeit mehr. Nur wenige Tage nach der Veröffentlichung des Steckbriefes wurde sie verhaftet. Der Dorfschulmeister von Degersheim erkannte die Frau, nach der die Polizei fahndete. Als er ihr beim Schreiben eines Briefes half, den Anna Göldi an ihre Verwandten in Werdenberg schicken wollte, erinnerte er sich an den Namen aus der Zeitung und gab den glarnerischen Behörden den entschei­denden Tipp. Dafür kassierte der Mann ein «Blutgeld» in der Höhe von hundert Kronentalern. Anna Göldi wurde festgenommen, nach Glarus transportiert und am 21. Februar 1782 in eine Gefängniszelle des Rathauses gesteckt.

      Ob Anna Göldi zu diesem Zeitpunkt schwanger war oder kurz zuvor ein Kind geboren hatte, lässt sich in Anbetracht der Akten nicht belegen. Theoretisch hätte sie in Degersheim oder auch noch später während ihrer Gefangenschaft in Glarus ein Kind zur Welt bringen können. Doch fehlen entspre­chende Anhaltspunkte. Im Verhör vom 21. März 1782 verneinte sie, in Erwartung eines Kindes zu sein. Scharfrichtern war es untersagt, Schwangere anzufassen. Es kann also davon ausgegangen werden, dass Anna Göldi zu Beginn der Folter nicht schwanger war.

      Im Verhör hatte die Angeklagte auch über ihr Privatleben Auskunft zu geben. Zufolge des Protokolls verschwieg sie die beiden früheren Schwangerschaften lange. Insbesondere das mit Doktor Melchior Zwicky gezeugte Kind hatte sie in den Verhören bis zuletzt nicht erwähnt. Erst am Schluss des ­Prozesses räumte sie auf Drängen von Doktor Johann Jakob Tschudi gegenüber dem Rat ein, von Doktor Zwicky schwanger geworden zu sein. Offensichtlich vermied sie – wenn immer möglich – Aussagen, die sie oder jemand anderen hätten in Schwierigkeiten bringen können.

       Kapitel 4 – Eine private Affäre wird zum politischen Konflikt

      Beim Hexenprozess gegen Anna Göldi ging es anfänglich nicht um Hexerei und Zauberei, es ging vielmehr um ganz weltliche und durchaus menschliche Vorgänge – um «verbotenen fleischlichen Umgang», wie ausserehelicher Beischlaf damals hiess.

      Ausgelöst wurde das Verfahren von Anna Göldi selbst, als sie sich am 26. Oktober 1781 – einen Tag nach ihrer Entlas­sung als Hausangestellte – an Landammann Johann Heinrich Tschudi und Pfarrer Johann Jakob Tschudi wandte und sich über ihren Dienstherrn beklagte. Der Landammann amtierte als Präsident des Chorgerichtes, das über familiäre und sittliche Angelegenheiten entschied, der Pfarrer als gewichtiges Mitglied derselben Behörde. Beide waren oberste Sittenwäch­ter des Landes Glarus.

      Der genaue Inhalt der Klage von Anna Göldi ist unklar, da die Akten zu diesem Teil des Verfahrens grösstenteils verschollen sind. Doch offenkundig ist, dass ihre Intervention behördliche Ermittlungen auslöste und sowohl die Magd als auch Doktor Tschudi zu den Vorwürfen sexueller Verfeh­lun­gen und einer ausserehelichen Schwangerschaft mehrmals befragt wurden.

      Als der Fall in Gang kam, versah der 34-jährige Doktor Johann Jakob Tschudi bereits hohe Ämter. Er war Mitglied des evangelischen Rates, der die oberste exekutive Gewalt ausübte, vergleichbar mit dem heutigen Regierungsrat. Zudem sass er im Fünfergericht, das über Nachbarstreitigkeiten und Schuldforderungen entschied, sowie im Neunergericht, das zuständig war für Erb- und Eigentumsstreitigkeiten. Und schliesslich war er Mitglied des evangelischen Chorgerichtes. Er gehörte also ebenfalls zu den höchsten Sittenwächtern des Landes.

      Umso schwerer wogen die Vorwürfe gegen ihn. Ausge­rechnet dieser angesehene Familienvater, Arzt, Politiker und Richter sollte seine Ehefrau betrogen haben? Und erst noch mit seiner Dienstmagd?

      Ehebruch galt nicht nur als anstössig und unstatthaft, sondern als eines der schlimmsten Delikte. Dieses wurde gemäss damaliger Rechtsauffassung meistens nicht von Männern, sondern von Frauen begangen. Die Rechtsprechung ging vor allem von ledigen Frauen als Übeltäterinnen aus, die verheiratete Männer verführten.

      Das hatte für diese Frauen – als «Huren», «schlimme Weibs­personen» und «Hudelgesind»