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Unter Schweizer Schutz


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      Über dieses Buch

      Zwischen März 1944 und Januar 1945 leitete der Schweizer Diplomat Carl Lutz (1895–1975) in Budapest eine umfangreiche Rettungsaktion. Lutz und sein Rettungsteam haben schätzungsweise mehr als 50000 Schutzbriefe ausgestellt und verfolgte Jüdinnen und Juden in 76 sogenannten Schweizer Schutz-häusern untergebracht und damit Zehntausende vor Deportationen, Erschiessungen und Todesmärschen bewahrt.

      «Unter Schweizer Schutz» enthält Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie Berichte, Briefe und Vorträge von Überlebenden in Israel, den Vereinigten Staaten, der Schweiz, Ungarn, Grossbritannien und Kanada. Das Buch zeigt die aussergewöhnliche Reichweite und das Ausmass der humanitären Hilfe von Carl Lutz und erinnert an seine selbstlose Grosstat.

      Carl Lutz kämpfte sein Leben lang um die staatliche Anerkennung seines Einsatzes, der von der offiziellen Schweiz als «Kompetenzüberschreitung» gewertet wurde. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, war dreimal für den Friedensnobelpreis nominiert und erhielt von Yad Vashem den Ehrentitel «Gerechter unter den Völkern». Im Jahr 2018 wurde im Bundeshaus in Bern ein «Carl Lutz Saal» eingeweiht.

      Agnes Hirschi, geboren kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in London, Kindheit in Budapest. Die Belagerung der ungarischen Hauptstadt erlebte sie als sechs Jahre altes Mädchen, die letzten zwei Monate des Kriegs mit der Familie Lutz und dreissig weiteren Personen im Luftschutzkeller. Nach dem Krieg heiratete Carl Lutz ihre Mutter, so kam sie in die Schweiz, wo sie seit 1949 lebt. Bis zu ihrer Pensionierung war sie als Journalistin in Bern tätig. Sie ist Präsidentin der 2018 in Bern gegründeten Carl Lutz Gesellschaft und Mitglied des Kuratoriums der 2004 gegründeten Carl Lutz Stiftung, Budapest.

      Foto Gerry Schallié

      Charlotte Schallié, geboren 1965 in Toronto, aufgewachsen im Aargau. Studium der Geschichte und Germanistik an der University of British Columbia in Vancouver. Sie ist Professorin an der University of Victoria in Kanada für Germanistik und Holocaust Studies. Veröffentlichte u. a. «Heimdurchsuchungen. Deutschschweizer Literatur, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur seit 1965».

      Unter Schweizer Schutz

      Die Rettungsaktion von Carl Lutz während des Zweiten Weltkriegs in Budapest – Zeitzeugen berichten

      Herausgegeben von Agnes Hirschi und Charlotte Schallié

      Unter Mitarbeit von Dahlia Beck, Daniel Teichman, Daniel von Aarburg und Noga Yarmar Mit einem Beitrag von François Wisard

      Übersetzungen von Lis Künzli und Barbara Linner

      Limmat Verlag

      Zürich

      «Doch die Gesetze des Lebens sind nun einmal stärker als menschliche Paragraphen»1

      Charlotte Schallié und Agnes Hirschi

      «Im Frühjahr 1944, während der unbarmherzigsten Schreckensherrschaft, fand sich ein Mensch, ein Schweizer Diplomat, der sich über alle Vorschriften (sowohl der Schweiz als auch Amerikas) hinwegsetzte, der seinen Diensteid verletzte, um einem Mitmenschen zu helfen.» 2

      Dieses Buch zeichnet aus der Sicht von Geretteten und Widerstandskämpfern die Rettungsaktivitäten des Schweizer Diplomaten Carl Lutz während des Zweiten Weltkriegs in Budapest nach.

      Carl Robert Lutz (1895–1975) war von Januar 1942 bis März 1945 Vizekonsul und Leiter der Abteilung «Fremde Interessen der Schweizer Gesandtschaft» in Budapest. Zu seinen Aufgaben gehörte, die Schutzmacht-Interessen von vierzehn kriegführenden Staaten in Ungarn zu repräsentieren – unter anderem jene der USA und Grossbritanniens. In dieser Funktion führte Lutz bereits zu Beginn seiner Amtszeit Verhandlungen mit den ungarischen Behörden und erwirkte, dass 10 000 Palästina-Zertifikate 3 für jüdische Kinder und Jugendliche ausgestellt wurden, womit er ihnen die Auswanderung in das britische Mandatsgebiet Palästina ermöglichte. Diese erfolgreichen Verhandlungserfahrungen in Budapest waren wegweisend für den Verlauf von Lutz’ Rettungsaktion, die er nach dem Einmarsch der Wehrmacht am 19. März 1944 auf eigene Initiative in die Wege leitete. Im Anschluss an die Besetzung Ungarns wurde die jüdische Bevölkerung – mit Ausnahme der Juden und Jüdinnen in der Hauptstadt – in weniger als zwei Monaten in Ghettos verschleppt und von dort nach Auschwitz-Birkenau und in andere Vernichtungslager deportiert und ermordet. Obwohl die Deportationen im Juli 1944 weitgehend eingestellt wurden, waren die Jüdinnen und Juden in Budapest weiterhin der Gefahr von Angriffen, Erschiessungen und Todesmärschen ausgesetzt. Carl Lutz, der über den Verlauf der Deportationen informiert war, entschloss sich, umgehend zu handeln. Nach wochenlangen Verhandlungen mit dem Reichsbevollmächtigten für Ungarn, SS-Brigadeführer Edmund Veesenmayer, und SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann erreichte Lutz, dass er das, von Grossbritannien bereits bewilligte, Kontingent von 7800 Palästina-Zertifikaten an jüdische Schutzsuchende ausstellen durfte.4 Da eine Auswanderung zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich war, war Carl Lutz’ Rettungscoup einzig darauf ausgerichtet, die jüdischen Verfolgten in Budapest vor den Erschiessungen, Todesmärschen und vorangetriebenen Abtransporten in die Sammellager zu bewahren. Zu diesem Zweck entwickelte er auf eigene Verantwortung eine Rettungsstrategie, die darauf abzielte, für alle Inhaber der Palästina-Zertifikate sogenannte «Schutzbriefe» auszustellen und sie gleichzeitig in einem kollektiven Auswanderungspass – dem «Kollektivpass» – namentlich zu erfassen. Sowohl die Schutzbriefe wie auch die zwei Kollektivpässe waren mit dem offiziellen Stempel der Schweizer Gesandtschaft versehen. Um sein Vorgehen zu erklären, vertrat Lutz gegenüber den deutschen und ungarischen Behörden den Standpunkt, dass die Inhaberinnen und Inhaber der Schutzbriefe als Schweizer Bürger unter Schweizer Schutz standen und von der Vernichtungspolitik in Ungarn ausgeschlossen waren. Carl Lutz organisierte diesen grossangelegten Rettungseinsatz, der die offizielle Schweiz als Schutzmacht für die jüdische Bevölkerung auftreten liess, ohne dass er dazu von der Schweizer Regierung bevollmächtigt gewesen wäre. Die humanitäre Schutzaktion war aus der Not geboren und konnte – wie die Zeitzeugenberichte in diesem Buch nahelegen – nur mit Hilfe eines Netzwerks von zahlreichen lokalen Helfern und Verbündeten durchgeführt werden. Es war ein gefährliches Unterfangen für alle Mitakteure. Carl Lutz beschreibt diese erste Phase seiner Rettungsaktivitäten wie folgt:

      «Die Erstellung dieser Pässe, die ‹Schweizer Kollektivpässe› genannt wurden, bot erhebliche Schwierigkeiten, wenn sich auch zahlreiche Volontäre zur Verfügung stellten, um bei den Schreibarbeiten mitzuhelfen. Meine Idee war, Kollektivpässe von je 1000 Personen zu erstellen. Dazu brauchte es, nebst den Personalien, auch Fotos von den Personen, die aber in den Judenhäusern [Gelbsternhäusern] eingeschlossen waren. Eine Gruppe von 50 jungen jüdischen Volontären stellte sich zur Verfügung – zum Teil in ungarischer Uniform – , um die Personalien und Photi zu beschaffen. In einigen Fällen wurde der Zutritt in die Häuser sogar erzwungen, indem die jungen Burschen sich als Pfeilkreuzler ausgaben. In mühsamer Nachtarbeit wurden vier Pässe angefertigt, die heute wohl historische Dokumente sind.» 5

      Der junge Carl Lutz auf der Atlantik-Überfahrt 1913

      Obwohl sich Carl Lutz nach aussen hin – und gegenüber den deutschen und ungarischen Behörden – an die Kontingent-Anweisungen hielt, setzte er sich in einem zweiten Schritt über sie hinweg, indem er eigenmächtig den Auftrag erteilte, die genehmigte Quote um ein Vielfaches zu überschreiten. Sein ausgeklügelter und erfinderischer Plan bestand darin, die begrenzten Mittel und Ressourcen des bürokratischen Apparats auszuschöpfen, um so viele Menschenleben wie nur möglich zu retten. Damit die waghalsige Strategie nicht aufflog, hielt er seine Mitarbeiter an, jede neue Serie von Einwanderungszertifikaten und Schutzbriefen jeweils von 1 bis 7800 zu nummerieren.6 Ein weiterer bürokratischer Kniff war, die 7800 Palästina-Zertifikate als «Familienzertifikate» zu interpretieren und für jedes Familienmitglied einen eigenen Schutzbrief auszugeben. Denn, so argumentierte der gewandte Verhandlungsführer Lutz, die ungarische Regierung habe doch schliesslich «Einheiten» genehmigt, die, nach seinen Vorstellungen, bis ca. zehn Familienmitglieder beinhalteten. Diese willkürliche