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Unter Schweizer Schutz


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Lutz bis zu seinem Lebensende darum kämpfte, sich in den Augen jener, die seine Vorgehensweise in Budapest legalistisch oder moralisch verurteilten, zu rehabilitieren.

      Carl Lutz mit einer Kinderschar in Appenzell, Schweiz, undatiert

      Nach dieser schriftlichen Massregelung sollten noch neun Jahre verstreichen, bevor Carl Lutz’ «unbefugtes» Vorgehen zum ersten Mal von offizieller Schweizer Seite als humanitäres Engagement gewürdigt wurde. Die Anerkennung von Bundesrat Markus Feldmann kam Lutz anlässlich der Debatte über den Ludwig-Bericht im Nationalrat zuteil. Die eigentliche offizielle Rehabilitierung erfolgte jedoch erst 1995 im Rahmen der Gedenkstunde zum 100. Geburtstag von Carl Lutz. Der damalige Aussenminister Flavio Cotti würdigte Carl Lutz als «stillen, aber grossen Helden». Es ist bezeichnend, dass Cotti in seiner Rede die Privatperson Lutz ehrte, indem er darauf hinwies, dass Lutz «als Mensch und verantwortliches Individuum gehandelt [habe], weil sein persönliches Gewissen ihm keine Ruhe liess». Dass die Rettungsaktion in Budapest nur möglich war, weil Lutz in seiner Funktion als Amtsträger handelte, darauf verwies Cotti in diskret indirekter Weise. Cottis Rede war keine politische Entschuldigung, es war die Ehrung eines Aufrechten und Gerechten, der – hier zitierte Cotti das humanitäre Credo von Carl Lutz – sich das Recht herausnahm, die jüdischen Flüchtlinge unter den offiziellen Schutz der Schweizer Regierung zu stellen: «Wenn es so viele Länder gibt, welche die Gesetze verletzen, um zu töten, so dürfte es doch ein Land geben, dass die Gesetze verletzt, um zu retten.»17

      Im Gegensatz zum politischen Erinnerungsdiskurs berichteten die Medien sporadisch über Carl Lutz’ Rettungsaktivitäten im Zweiten Weltkrieg. Vier Monate nach Kriegsende – am 15. September 1945 – erschien in der «Schweizer Illustrierten» ein Beitrag unter dem Titel «Ein Schweizer Konsul und ein Konsul von Salvador verhinderten die Ausrottung des ungarischen Judentums». Anlässlich seiner Pensionierung im Jahre 1961 wurden Carl Lutz’ persönliche Aufzeichnungen in gekürzter Form in der «Neuen Zürcher Zeitung» unter dem Titel «Die Judenverfolgung unter Hitler in Ungarn» zum ersten Mal veröffentlicht. Der einleitende Paragraph würdigte, «was Mannesmut, Unerschrockenheit und Unbeirrbarkeit im Dienste der Menschlichkeit auch in einer Zeit zu wirken vermögen, in der alle ethischen Wertmassstäbe mit Füssen getreten werden».18 Im selben Jahr erschien «Heute darf ich reden – Ich habe nicht umsonst gelebt» in der Zeitschrift «Sie und Er». In diesem Artikel kamen auch weitere an der Rettungsaktion beteiligte Personen wie Tibor Rosenbaum und Alexander Grossman zu Wort. Als zehn Jahre später Carl Lutz der «Schweizer Illustrierten» den Vorschlag unterbreitete, über die Rettungsaktion zu schreiben, erhielt er die Antwort «Nun verhält es sich leider so, dass sich – wie verlässliche Erhebungen ergeben haben – der Grossteil meiner Leser für die dramatischen Vorgänge, in deren Mittelpunkt Sie einstens gestanden haben, kaum mehr interessiert, sodass ich beim besten Willen keine Möglichkeit sehe, einen Bericht in der ‹Schweizer Illustrierten› zu publizieren, wie er Ihnen vorschwebt. Unterzeichnet von Dr. W. Meier – Chefredaktion.» Diesen ablehnenden Bescheid erhielt Carl Lutz vier Jahre vor seinem Tod.

      Carl Lutz und Gertrud Lutz-Fankhauser sitzen mit dem Chauffeur Charles Szluha im Wrack ihres Autos, Budapest, Ungarn 1945

      Zwischen 1975 und 1995 finden sich in der medialen Aufarbeitung der Schweizer Erinnerungsgeschichte zum Zweiten Weltkrieg relativ wenige Hinweise auf Carl Lutz. Vereinzelte Beiträge behandelten Alexander Grossmans Biografie «Nur das Gewissen. Carl Lutz und seine Budapester Aktion – Geschichte und Porträt» (1986) und berichteten über die Einweihungen der Ehrentafel in Walzenhausen (1975), des Carl-Lutz-Denkmals in Budapest (1990) und des Carl-Lutz-Weges in Bern (1995).

      Obwohl die historische Figur Carl Lutz in der kollektiven Erinnerung der Schweiz auch heutzutage noch nicht fest verankert ist, wird seine Schutzbrief-Rettungsaktion im nationalen Gedächtnis der Schweiz seit zehn Jahren vermehrt gewürdigt. Eine bedeutende Ehrung von Seiten der Bundesregierung erfolgte anlässlich der Herbstsession des Nationalrats am 24. September 2018 im Nationalrat. Ein halbes Jahr zuvor wurde das grösste Sitzungszimmer im Westflügel des Bundeshauses als «Carl Lutz Saal» von Bundesrat Ignazio Cassis eingeweiht.

      Carl Lutz in den Ruinen der Britischen Gesandtschaft, Budapest, Ungarn 1945

      Erste Weihnachten in Bern, Schweiz 1949

      Porträtaufnahme von Carl Lutz 1965

      Oral History – Gespräche mit Geretteten und Zeitzeugen

      Die in diesem Buch vorliegenden Berichte bzw. Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden und Zeitzeugen sind über einen Zeitraum von 25 Jahren (1995–2020) in Israel, Ungarn, der Schweiz, Grossbritannien, Kanada und den Vereinigten Staaten erfasst und gesammelt worden. Den Begriff «Zeugnis» verwenden wir dabei nicht in seiner juristischen Bedeutung, sondern fassen ihn, um den multiplen methodologischen Ansätzen gerecht zu werden, in weitem Sinn als «Weitergabe von Informationen, für die sowohl ein innerer, unbeugsamer Druck sie mitzuteilen besteht als auch eine äussere Bereitschaft und ein Verlangen, diese zu empfangen»19.

      Nachfolgend steckt François Wisard, Leiter des Historischen Dienstes beim EDA, den historischen Zeitrahmen ab, der die Rettungsmassnahmen von Carl Lutz in den Kontext anderer Rettungseinsätze durch Diplomaten und das Internationale Rote Kreuz in Budapest während des Kriegs stellt. Wisards Überlegungen zu den höchst komplizierten Rettungsmissionen unter Schweizer Leitung führen uns zum ersten Kapitel, das Zeugnisse ehemaliger Mitglieder von vier zionistischen Jugendbewegungen vorstellt: Bne Akiva, Hanoar Hazioni, Haschomer Hazair und Hechaluz. In diesem Kapitel ist auch der Zeugenbericht eines Nichtjuden enthalten, Paul Fabry. Fabry, der zum militärischen Widerstand gehörte, stellte eine Truppe zusammen, die vorgeblich mit der Bewachung des Glashauses beauftragt war. Während die falsche Militäreinheit vortäuschte, die Insassen des Glashauses gefangen zu halten, schützten er und seine Soldaten in Wirklichkeit die jüdischen Bewohner vor Angriffen und Verhaftungen durch die Pfeilkreuzler. Sein Bericht erinnert uns daran, wie viele individuelle Widerstandsaktionen zu den von der Schweiz geführten Rettungsmissionen beigetragen haben: «Es gab keinen einzigen geretteten Juden, ohne dass nicht Dutzende andere daran beteiligt waren. Da war derjenige, der ihn ins Haus hereinliess, derjenige, der ihn zum Taxi brachte, derjenige, der ihm ein bisschen Kleingeld oder etwas zu essen gab, derjenige, der mit gefälschten Bescheinigungen von einem Ort zum andern rannte, derjenige, der den Telefonanruf machte, um ihm zu sagen, er soll fliehen. Es war eine Kette von Ereignissen, und eine einzige Sekunde konnte von Bedeutung sein. Wo konnte in dieser Sekunde jemand helfen? War jemand da, der einem zu Hilfe kam? War jemand da, der einem dieses Papier gab? Niemand konnte allein tausende Verfolgte retten. Und das trifft auch für Lutz zu. Lutz war ein Held, aber er brauchte Hunderte andere, die ihm halfen.»

      Im zweiten Kapitel werden Lebensgeschichten nachgezeichnet, die auf Interviews mit Überlebenden und deren Nachkommen beruhen. Diese Porträts von Geretteten – die Gespräche, auf denen sie basieren, wurden mit einer Ausnahme alle von Agnes Hirschi geführt – sind weitgehend in der dritten Person gehalten um hervorzuheben, dass diese mündlich erfragten Lebensgeschichten durch die Augen der GesprächspartnerInnen reflektiert werden. Diesem gemeinschaftlichen Ansatz zwischen Interviewern und Befragten liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Erinnerungen der Zeugen nicht in einem abstrakten Vakuum existieren, sondern in einem dialogischen Rahmen gegenseitig konstituiert und vermittelt werden.20

      Das dritte Kapitel enthält Zeitzeugengespräche, die von Noga Yarmar, Charlotte Schallié, Daniel von Aarburg und Daniel Teichman geführt wurden.20 Ein Grossteil der Gespräche sind «narrative Interviews», die auf Video aufgezeichnet wurden. Dies bedeutet konkret, dass wir zu Beginn des Gesprächs Leitfragen stellten, danach den Redefluss aber nicht mehr unterbrochen