und Schutzpässe ausstellen konnte.7
In Verhandlungen mit dem ungarischen Aussenminister Gábor Kemény erreichte Carl Lutz zudem, dass 76 Häuser in der Pozsonyi-Strasse und am Szent-István-Park laut geltendem Exterritorialitätsrecht unter Schweizer Obhut gestellt wurden. Dazu gehörte das Glashaus in der Vadász-Gasse 29, das als exterritoriales Gesandtschaftsgebäude von der ungarischen Regierung anerkannt war.8 In diesem Gebäude eröffnete die Abteilung «Fremde Interessen der Schweizer Gesandtschaft» am 24. Juli 1944 ihre Auswanderungsabteilung. Carl Lutz betraute zuerst den Leiter des Budapester Palästina-Amtes Miklós (Mosche) Krausz und danach auch Alexander Grossman damit, die Leitung zu übernehmen. Nach dem Staatsstreich der «Nyilas» (Pfeilkreuzler) am 15. Oktober 1944 war das Glashaus das grösste Gebäude unter Schweizer Schutz und beherbergte gemäss Zeitzeugenaussagen bis zu 3000 verfolgte jüdische Menschen. Nach Schätzungen von Mihály Salamon fanden in allen 76 von der Schweiz geschützten Häusern zirka 17 000 Verfolgte einen Zufluchtsort.9
Aus Carl Lutz’ Aufzeichnungen geht hervor, dass um die 150 Personen – Angestellte der Schweizer Gesandtschaft und Freiwillige – an dieser umfangreichen Rettungsaktion mitbeteiligt waren.10 Zu ihnen gehörten Carl Lutz’ engste Vertraute, seine Ehefrau Gertrud Lutz-Fankhauser (1911–1995), die Schweizer Landsleute Harald Feller (1913–2003), Ernst Vonrufs (1906–1972), Peter Zürcher (1914–1975) sowie Miklós Krausz (1908–1985) und Mitglieder der zionistischen Jugenduntergrundbewegungen. Andere Diplomaten wie Raoul Wallenberg oder der päpstliche Nuntius Angelo Rotta folgten seinem Beispiel und stellten ebenfalls zahlreiche Schutzbriefe, Pässe und Zertifikate für die Menschen in Not aus. Aufgrund ihres Umfangs und ihrer minutiösen Durchführung jedoch darf die risikoreiche Operation von Lutz, die er «ohne einen administrativen Apparat, ohne finanzielle Mittel und ohne amtlichen Auftrag»11 ausführte, als die grösste und erfolgreichste zivile Rettungsmission des Zweiten Weltkriegs betrachtet werden.12 Um das Überleben der jüdischen Bevölkerung, die in akuter Lebensgefahr war, zu sichern, setzte sich Carl Lutz über Konventionen und Vorschriften hinweg, indem er die Menschenrechte und den Grundsatz der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens über das damals geltende Unrecht stellte. Mehr als 70 Jahre später dient Carl Lutz’ Rettungsaktion noch immer als musterhaftes Beispiel humanitärer Diplomatie in Konfliktgebieten.
Carl Lutz mit seiner geliebten Mutter Ursula, USA 1934
Carl Lutz
Carl Lutz wurde am 30. März 1895 in Walzenhausen (Appenzell Ausserrhoden), einer hoch über dem Bodensee gelegenen Gemeinde, als zweitjüngstes von zehn Kindern geboren. Sein Vater, Johannes Lutz, betrieb einen Steinbruch, starb jedoch früh. Die tiefreligiöse Familie war arm. Seine Mutter, Ursula Lutz-Künzler, war Sonntagsschullehrerin in der Methodistengemeinde und kümmerte sich um die Armen in der Gemeinde. Sie war eine warmherzige Frau und ein Vorbild für Carl Lutz, der seine Mutter liebte und verehrte. Da ein Studium in der Schweiz aus finanziellen Gründen nicht in Frage kam, wanderte er nach seiner kaufmännischen Lehre in St. Margrethen (St. Gallen) im Jahr 1913 nach St. Louis (Missouri), in die Vereinigten Staaten, aus. Er war gerade achtzehn Jahre alt geworden; ohne eigenes Vermögen und ohne Beziehungen dorthin. Um sein geplantes Studium zu finanzieren, arbeitete er fünf Jahre lang in einer Fabrik in Granite City (Illinois). Dann erst konnte er an der George Washington University sein Studium in Geschichte und Jura aufnehmen und drei Jahre später (1924) mit dem Bachelor of Arts abschliessen. In dieser Zeit begann auch seine diplomatische Karriere, zunächst mit einer Aushilfsstelle als Korrespondent und bald als Kanzlist in der Visa-Abteilung der Schweizer Gesandtschaft in Washington, D. C. Daraufhin folgten feste Anstellungen als Kanzleisekretär an den Schweizer Konsulaten in Philadelphia und St. Louis. Im Jahr 1935, nach seiner Heirat mit Gertrud Fankhauser, wurde Carl Lutz an das Schweizer Konsulat in Jaffa, das für das damalige Palästina und Transjordanien zuständig war, versetzt. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vertrat er auch die Interessen der deutschen Reichsangehörigen in Palästina. In diese Zeit fiel seine Ernennung als Vizekonsul. Die guten Kontakte zu Deutschland kamen ihm später in Budapest zugute. Wie bereits erwähnt war Carl Lutz nach seiner Tätigkeit in Palästina von Januar 1942 bis März 1945 Vizekonsul in Budapest.
Carl Lutz und Gertrud Lutz-Fankhauser (2. Reihe rechts aussen) im Bus von Lissabon nach Genf 1945. Dazu schreibt Carl Lutz: «Endlich rückt die Heimat näher! Von Lissabon ging es Mitte Mai 1945 über Madrid nach Barcelona, wo wir von einem schweizerischen Autobus abgeholt und wohlbehalten nach Hause gebracht wurden.»
Nach den Ereignissen in Budapest kehrte Carl Lutz im Mai 1945 gesundheitlich schwer angeschlagen über Bulgarien und die Türkei in die Schweiz zurück. In seinem unveröffentlichten Lebenslauf, den er 1968 verfasste, schildert er die Umstände dieser abenteuerlichen Reise:
«Nach einem einwöchigen Aufenthalt in der Türkei setzten wir die Reise auf dem Schutzmachtdampfer ‹Drottingholm›, stets mit Schwimmgürtel durch das minenverseuchte Mittelmeer, nach Lissabon fort, von dort über Spanien nach Genf, wo wir nach der sechs Wochen dauernden Reise um Mitternacht ankamen und den Dank und Gruss der Heimat entgegennahmen, der da lautete: ‹Haben Sie was zu verzollen?› »13
Carl Lutz arbeitete nach seiner Genesung von 1946 bis 1954 für das Politische Departement in Bern und Zürich. In dieser Zeit liess er sich von seiner Frau Gertrud scheiden und heiratete im Jahr 1949 Magda Grausz aus Budapest. Im Jahr 1951 war er in einer besonderen Mission für die Lutheran World Federation in Israel tätig. Von 1954 bis 1961 amtete er als Konsul in Bregenz (Österreich) – zuletzt als Titular-Generalkonsul. Nach seiner Pensionierung lebte Carl Lutz in Bern, wo er am 13. Februar 1975 im Alter von 80 Jahren verstarb. Seine erste Frau, Gertrud Lutz-Fankhauser schrieb über ihn: «Er gehörte zu den Stillen im Lande und war zeitlebens ein pflichtbewusster Beamter. Gleichzeitig war er von seinem tiefen christlichen Glauben stark geprägt, was ihn aus innerstem Bedürfnis immer wieder dazu verpflichtete, Menschen in Not beizustehen.»14
Nach der Zeit in Budapest war Carl Lutz für den Rest seines Lebens von einem grundlegenden Widerspruch gezeichnet. Obwohl er sich Vorwürfe machte, in Budapest nicht mehr «Schutzbefohlene» gerettet zu haben, tat er sich schwer damit zu akzeptieren, dass seine humanitäre Aktion in der Schweiz wenig Beachtung fand. Während ihm aus dem Ausland verschiedene Zeichen der Anerkennung zuteil wurden – unter anderem eine Strassennamensgebung in Haifa (1958), das Grosse Bundesverdienstkreuz der BRD (1962), und die Ehrung als «Gerechter unter den Völkern» von Yad Vashem (1964)15 – wurden seine Rettungsaktivitäten in seiner Heimat nur vereinzelt gewürdigt, er erhielt zum Beispiel das Ehrenbürgerrecht seiner Heimatgemeinde Walzenhausen (1963). Nach seiner Rückkehr aus Budapest nahmen sich seine Vorgesetzten im Bundeshaus kaum Zeit, ihn anzuhören; stattdessen prüfte man seine Spesenabrechnung. Auch wurde seiner beim Eidgenössischen Politischen Departement (EPD; heute EDA) vorgebrachten Bitte, ihm zwei Kollektivpässe für einige Zeit zur Verfügung zu stellen, nicht entsprochen. In einem Brief (5. Februar 1949) erhielt Carl Lutz den Bescheid, dass die Polizeiabteilung des Eidgenössischen Polizei- und Justizdepartements gegen ihn den Vorwurf der «Kompetenzüberschreitung» erhob, denn es sei in Budapest nicht gesetzmässig gewesen, Schweizerpässe an Ausländer zu verteilen:
«Die Polizeiabteilung des Eidgenössischen Polizei- und Justizdepartements macht uns [...] mit Schreiben vom 25. Januar 1949 darauf aufmerksam, dass die Bezeichnung der betreffenden Ausweispapiere als schweizerische Kollektivpässe nicht statthaft war; denn die Abteilung für fremde Interessen sei wohl ermächtigt gewesen, den ihrem Schutz unterstellten Ausländern Papiere abzugeben, habe aber diese nicht als Schweizerpässe bezeichnen dürfen.»16
Man muss sich vergegenwärtigen, dass Carl Lutz in einer höchst dramatischen Situation in Ungarn, wo Adolf Eichmann die Vernichtung der ungarischen Juden vorantrieb, sich eines raffinierten juristischen Manövers bediente, um Tausende von Menschenleben zu retten. Während er sich dazu entschied, Menschenleben höher zu gewichten als das buchstabengetreue Befolgen von Gesetzen, wurde ihm letztlich genau dies von seinen Vorgesetzten vorgehalten. Die oben zitierte schriftliche Rüge – auch wenn sie keine Bestrafung nach sich zog – empfand