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Unter Schweizer Schutz


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zu Ende erzählt hatten. Im Rahmen seines Filmprojektes «Carl Lutz – Der vergessene Held» hat Daniel von Aarburg biografische Interviews geführt, das heisst, er hat sowohl Leitfragen als auch offene Fragen gestellt. Daniel Teichmans Beitrag gibt ein persönliches Gespräch zwischen Vater und Sohn wieder.

      Carl Lutz in seinem Büro, Bregenz, Österreich 1960

      Wir befragten Überlebende, die im Jahr 1944 noch im Kleinkindalter waren; andere Überlebende, die uns ihre Erinnerungen anvertrauten, waren damals bereits erwachsen und an der Rettungsmission mitbeteiligt. Angesichts dieser grossen Altersspanne variieren die Erinnerungen stark: Einige reflektieren die Wahrnehmung eines Kindes, andere werden aus der Erwachsenenperspektive geschildert und dabei in Zusammenhänge eingebettet, die stark von nachfolgenden Ereignissen und «Folgeerfahrungen»21 geprägt sind.

      Während der Gespräche mit den Zeitzeugen achteten wir darauf, aufmerksame und engagierte Zuhörerinnen zu sein und uns so wenig wie möglich einzumischen, um den Erinnerungsprozess zu respektieren, der sich oft als «Bewusstseinsstrom» vollzog. Wir orientierten uns an den vom USC Shoah Foundation Institute for Visual History and Education entwickelten Leitfäden und den vom United States Holocaust Memorial Museum vorgeschlagenen Richtlinien für Interviews. Sämtliche Überlebende, die persönlich befragt wurden, zeigten ein dringendes Bedürfnis, Zeugnis abzulegen – und brachten dies oft schon bei der ersten, telefonischen Kontaktaufnahme deutlich zum Ausdruck. Wenn das Erinnern aufgrund des fortgeschrittenen Alters der Überlebenden schwieriger war, baten wir ihre Ehepartner und Kinder, beim Gespräch zu vermitteln. In solchen Situationen wurde das Format an die individuellen Bedürfnisse und Umstände angepasst, und es entwickelte sich ein gemeinschaftliches Erinnern von Überlebenden und ihren Familienmitgliedern.22

      Das vierte Kapitel enthält schriftliche Selbstzeugnisse, die von Überlebenden oder deren Nachkommen verfasst und zum Teil durch Interviews ergänzt wurden. Sowohl in den mündlichen wie auch in den schriftlichen Selbstzeugnissen erinnern sich einige Überlebende lebhaft und detailliert an die Ereignisse von 1944 und 1945, während andere die Erinnerung mit philosophischen und historischen Reflexionen verweben, die auf jahrelangen Recherchen und der Beschäftigung mit der Vergangenheit beruhen.

      Im fünften Kapitel versammeln wir Hommagen und Briefe an Carl Lutz, die Agnes Hirschi – Journalistin, Holocaust-Überlebende und Stieftochter von Carl Lutz – über viele Jahre hinweg von Überlebenden erhalten hat.

      Die Transkripte der Gespräche, die auf Deutsch, Hebräisch, Ungarisch und Englisch geführt wurden, sind für die Buchausgabe bearbeitet und gekürzt worden. Die schwierige Aufgabe, einen mündlichen Bericht in ein schriftliches Dokument zu übertragen, erforderte weitere gemeinsame Anstrengungen von Überlebenden, InterviewerInnen, ÜbersetzerInnen, RedakteurInnen und LektorInnen. Obwohl die Erinnerungsprozesse zyklischen und sich wiederholenden Mustern folgen, haben wir uns bei allen Berichten und Zeugnissen für eine lineare Erzählstruktur entschieden. Um ein teambasiertes Modell der Zusammenarbeit umsetzen zu können, haben wir alle einen Ansatz gewählt, der dem komplexen Zusammenspiel von Inhalt, Erinnerungsprozess und Formgebung grosse Aufmerksamkeit schenkt.

      Die Arbeit unserer MitherausgeberInnen (Daniel Teichman, Noga Yarmar, Dahlia Beck, Daniel von Aarburg) war ein integraler Bestandteil dieses Projekts. Aus diesem Grund haben wir am Schluss einen Anhang mit ihren Anmerkungen hinzugefügt, damit die Art unseres gemeinsamen Vorgehens so transparent wie möglich wird.

      Juli 2020

      Kontext und Eckpunkte der Rettungsaktivitäten von Carl Lutz und seinem Team

      François Wisard23

      Die Rettungsaktivitäten von Carl Lutz und seinem Team können nur im Kontext der politischen Entwicklungen Ungarns in den Jahren 1944 und 1945 und der gleichzeitig von Repräsentanten anderer neutraler Länder unternommenen Rettungsmassnahmen verstanden werden (siehe 1 und 2).

      Lutz’ Rettungseinsatz kann auf keinen Fall als die heroische Tat eines Einzelnen betrachtet werden, sondern war Teil einer kollektiven Anstrengung unter seiner Leitung. Diese Rettungsbemühungen waren jedoch wegweisend: Sie gingen anderen nicht nur zeitlich voraus, sondern ermöglichten auch die Rettung der meisten Menschen (siehe Punkte 2 und 4).

      Ungarn und die Judendeportation

      Carl Lutz kam im Januar 1942 nach Budapest und kehrte im April 1945 gemeinsam mit seinen Mitarbeitenden in der schweizerischen diplomatischen Vertretung nach Bern zurück – mit Ausnahme seines Vorgesetzten und eines Kollegen, die beide von den Sowjets gefangengenommen und nach Moskau gebracht worden waren. Die Ereignisse in Ungarn zu jener Zeit können in drei verschiedene Phasen eingeteilt werden.

      Die erste Phase umfasst die Zeit bis zur deutschen Besetzung am 19. März 1944. Nachdem sich Ungarn 1940 durch seinen formellen Beitritt zum Achsenbündnis gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland zu militärischem Beistand verpflichtet hatte, konnte es Teile der Tschechoslowakei, Rumäniens und Jugoslawiens annektieren und damit Gebiete zurückgewinnen, die es in der Folge des Ersten Weltkriegs verloren hatte. Zwischen 1938 und 1941 verabschiedete Ungarn drei antijüdische Gesetze, die sich weitgehend an den Nürnberger Gesetzen orientierten und die Juden faktisch von allen staatlichen und öffentlichen Ämtern ausschlossen. Darüber hinaus beteiligten sich ungarische Truppen an Massakern an Juden. Dennoch stellte Ungarn im Frühling 1944 das letzte Gebiet unter Kontrolle oder Einfluss der Achsenmächte dar, in dem die «Endlösung» noch nicht durchgeführt worden war. Es lebten um die 750 000 Juden innerhalb seiner Grenzen, darunter viele, die aus Polen, vor allem aber der Slowakei geflüchtet waren.

      Mit dem 19. März 1944 änderte sich die Lage. Angesichts des Vorrückens der sowjetischen Armee und des sich zunehmend stärker manifestierenden Willens der ungarischen Regierung, ins Lager der Alliierten zu wechseln, marschierten die deutschen Truppen im Land ein. Nazideutschland verfügte jedoch nicht mehr über die Mittel für eine umfassende, dauerhafte Besetzung, und ein Grossteil der Truppen wurde bald wieder abgezogen. Es zwang dem Reichsverweser Miklós Horthy, der das Land seit 1920 regierte, zwei Reihen von Massnahmen auf: eine Kollaborationsregierung und eine Armada von Aufsehern und Beratern unter der Leitung von Edmund Veesenmayer, der sowohl Heinrich Himmler als auch Joachim von Ribbentrop vertrat. Adolf Eichmann stand an der Spitze eines Spezialkommandos zur Organisation der Deportationen. Es waren also die Deutschen, die die Strippen zogen. Um jedoch den Schein ungarischer Souveränität aufrechtzuerhalten, blieb der Regent Horthy Staatsoberhaupt.

      Eichmann und seine Kommandotruppe machten sich umgehend an die Arbeit. Es wurde ein Zeitplan zur Konzentration der ungarischen Juden erstellt, der bald die Deportation folgen sollte. Als erstes waren die Juden der Provinzen im Osten, Südosten und Norden betroffen – die Gebiete, die den heranrückenden sowjetischen Truppen am nächsten lagen und als letzte von Ungarn annektiert worden waren. Die Operation sollte spätestens nach drei Monaten mit den Juden der Hauptstadt abgeschlossen werden. Am 15. Mai 1944 fuhr der erste Zug nach Auschwitz-Birkenau, bis an die slowakische Grenze von Ungarn begleitet. Innerhalb weniger Wochen wurden über 430 000 Juden aus der Provinz deportiert, was eine Welle an Protesten auslöste. Papst Pius XII., der amerikanische Präsident Roosevelt und der schwedische König schickten Protestnoten an den Regenten Horthy. Anfang Juli wurde Budapest von der US-Luftwaffe bombardiert. Vor diesem Hintergrund ordnete Horthy am 6. Juli einen Deportationsstopp an. Bis dahin war die jüdische Bevölkerung aus der ungarischen Provinz verschwunden. Übrig blieb die jüdische Gemeinschaft der Hauptstadt Budapest.

      Im Laufe des Sommers zeichneten sich zwei widersprüchliche Entwicklungen ab: Zum einen mussten die jüdischen Bürger der Hauptstadt sowie die Gebäude, in denen sie zu leben gezwungen waren, den gelben Stern tragen. Zum anderen wurden allzu deutschfreundliche Regierungsmitglieder entlassen.

      Die dritte Phase begann mit dem 15. Oktober 1944. Nach der Ankündigung des Regenten Horthy, Ungarn werde sich aus dem Krieg gegen die Alliierten zurückziehen, wurde er gezwungen, die Macht an Ferenc Szálasi abzutreten, den Anführer der Nyilas, der nazistischen ungarischen Pfeilkreuzler-Partei. Der neue Innenminister gab