verschacherte, so dass die Auswanderer wie Leibeigene gehalten wurden und vom bündnerischen Elend in die brasilianische Misere torkelten. Die Zustände waren so krass, dass die Heimat sich wieder für die Ausgewanderten interessieren musste und ein eidgenössischer Kontrolleur nach Brasilien geschickt wurde. Dieser hiess Dr. Christian Heusser und war ein Bruder der Johanna Spyri und hat die grauenhaften Zustände schriftlich festgehalten. (Die Schriftstellerin Eveline Hasler hat vor kurzem über das Thema einen spannenden, auf Quellen fussenden, sich z.T. auf den Bericht von Dr. Heusser abgestützten Roman geschrieben: «Ibicaba – Das Paradies in den Köpfen», Zürich 1985.)
Auch Johanna Spyri hatte ein «Paradies im Kopf», und darin gab es u.a. Ziegen, die sie personalisierte. Während die Bergbauern kümmerlich von den Geissen und anderem spärlich vorhandenem Getier lebten, scheinen die lieben Viecher, aber nicht ihre wirtschaftliche Bedeutung, als leibhaftige Personen im Roman so auf: «Da war der grosse Türk mit den starken Hörnern, der wollte mit diesen immer gegen alle andern stossen, und die meisten liefen davon, wenn er kam, und wollten nichts von dem groben Kameraden wissen. Nur der kecke Distelfink, das schlanke, behende Geisschen, wich ihm nicht aus (…) Da war das kleine, weisse Schneehöppli, das immer so eindringlich und flehentlich meckerte, dass Heidi schon mehrmals zu ihm hingelaufen war und es tröstend beim Kopf genommen hatte. (…) Weitaus die zwei schönsten und saubersten Geissen der ganzen Schar waren Schwänli und Bärli, die sich auch mit einer gewissen Vornehmheit betrugen.» – Ganz wie Frau Spyri, welche die Geissen den Städtern hübsch frisiert servierte. Der grosse Türk, der stössige … Welchen Unhold, welchen Macho hat Johanna Spyri in ihm vermutet? Welch bäurischen Unflat? Die Sonntags-Bergbauern in ihrem Roman sind brav – nur bei den Tieren regt sich noch etwas.
Sie weilte bei der aristokratischen Familie von Salis, die auch, wie Familie von Sprecher, vom Grossgrundbesitz und früher vom Verkauf der Söldner an fremde Potentaten gelebt hatte, aber dieses Milieu beschrieb sie nicht. Was ihr vertraut ist, schildert sie nicht, und was sie schildert, ist ihr nicht vertraut. Von den Bergbauern hat sie keine Ahnung. Und sie musste, wenn sie Erfolg haben wollte, nach Deutschland schielen (das mussten Keller und Meyer auch), auf dem schweizerischen Markt allein fand sie nicht genügend Abnehmer, und so waren denn prompt ihre heftigsten Bewunderer die deutschen Rezensenten. Diese verstanden von der bündnerischen Bergwelt noch weniger als die Schweizer Rezensenten des Unterlandes. Indem sie ihre eigenen Sehnsüchte befriedigte, die unterschwellige, ihr vermutlich unbewusste Erotik forcierte – die im wilhelminisch verklemmten Deutschland gut ankam – und sich selbst ein idyllisches Landleben vorgaukelte wie die zürcherischen Bukoliker des 18. Jahrhunderts, verpasste sie zugleich dem Deutschland der Gründerzeit eine wohlfeile Idylle. Das ging natürlich nur, wenn man das deutsche Personal im Roman positiv schilderte, Herr Sesemann ist ein edler, schwerreicher Bürger-Handelsmann, woher sein Reichtum kommt, erfährt man nicht. Die Dienerschaft ist liebreich, etwas kauzig und natürlich angepasst, die Frankfurter Grossmama ein Ausbund von Edelmut, und die Klara im Rollstuhl ist hilfreich und gut. (Vielleicht kommt dort etwas Zivilisationskritik zum Vorschein: das Stadtleben kann lähmend sein.) Was dem Schweizer Maitli noch fehlt, kann es in Deutschland holen, etwas Welterfahrung, Weltluft schadet nicht, aber immer mit Mass, und was den Deutschen fehlt, finden sie auf der Alp, nämlich Gesundheit und Genesung für die lahme Klara. So sind die beiden Länder psychologisch aufs innigste miteinander verbunden, verwoben wie ihre wirklichen Handelsbeziehungen, und so wie kurz vor dem Ersten Weltkrieg der deutsche Kaiser in der Schweiz begeistert begrüsst wird, begeisterter als sonst im Ausland, und wie Deutschland überhaupt ganz allgemein hoch im Kurs stand, sind auch die edlen Deutschen auf der Alp willkommen, die sie in absehbarer Zeit kolonisieren werden. Nur eine deutsche Figur bleibt unsympathisch, aber die ist nicht zufällig subaltern, der Ekel des Lesers kann ungestraft auf Fräulein Rottenmeier abgeladen werden, das strahlende Deutschland-Image leidet darunter nicht – Fräulein Rottenmeier wird ja dann auch wirklich von Herrn Sesemann und der liebreichen Grossmama zusammengestaucht.
So hat alles seine Ordnung, seine kristalline Klarheit, edel wie ein Bergkristall glänzt der Roman durch die Jahrhunderte und klammert jede Problematik aus, und die Japaner, einen sahen wir im September schweissgebadet zur Heidi-Alp hinaufkraxeln, werden noch lange an unser Heidi glauben.
Sartre und sein kreativer Hass auf alle Apparate
… sei gestorben, heisst es, und obwohl man ihn sich nicht tot vorstellen kann (dieses Hirn zerfallen? kremiert? das ist schade), müssen wir es wohl glauben; die Nachrichten aus Paris scheinen unwiderlegbar. «Il ne pourra plus gueuler», er wird nicht mehr ausrufen können, hat einer geschrieben. Er wird die Bourgeois nicht mehr als Sauhunde (salauds), die Stalinisten nicht mehr als Krüppel titulieren können, und im Café LA LIBERTÉ wird sein Platz an der Theke leer bleiben.
Jean-Sol Partre hat ihn Boris Vian genannt. Ein Auge/schaut dem anderen/beim Sehen zu. Sehend die Welt reflektieren; zugleich den Akt des Sehens reflektieren. Er schielte und sah deshalb mehr als andere. Er hat eine schöne Beerdigung gehabt. Es wurde keine Kirche benutzt. Es wurden keine Reden gehalten. Man hat den Kulturminister nicht erblicken müssen, obwohl dieser vielleicht gern gekommen wäre. Weil er riskierte, dabei ausgepfiffen zu werden, ist er nicht gekommen. Dafür viele métèques, Fremdarbeiter, Zigeuner, Arme, Kaputte, Intellektuelle, auch viele Schriftsteller. Die bezeichnet man auf französisch mit dem schönen Wort écrivains, ceux-qui-écrivent-en-vain. Sartre hat kürzlich bekannt, er habe eigentlich vergeblich geschrieben. Aber Spass habe es ihm gemacht, das Schreiben.
Er hat eine schönere Beerdigung gehabt als Diggelmann. Es ist, solange noch beerdigt wird, nicht ganz nebensächlich, wie das geschieht. Marchais war übrigens auch nicht am Trauerzug; auch er wär' ausgepfiffen worden.
Lebend habe ich ihn zum letzten Mal gesehen auf der Redaktion von LIBÉRATION. Das heisst ihn hat man zuerst nicht gesehen, nur eine schöne alte Frau, die mit ihm gekommen war. Neben ihr war nach einiger Zeit ein kleiner, zerknitterter, sagenhaft hässlicher Mann zu entdecken, wüst wie Sokrates, welchem abgetragene Hosen um die Beine schlotterten und eine dicke-gelbe-angerauchte, aber jetzt kalte, Zigarette von der Lippe baumelte. Sobald sein Mund aufging, hat man den alten Mann aber nicht überhören können. Über diese Zeitung LIBÉRATION, die er mitgründete, darf man heute im «Tages-Anzeiger» (Kultur) lesen: «Doch der Denker, das Blättchen ‹Libération› auf der Strasse verkaufend, war wohl eher ein Ausgenützter als jemand, der seine politische Heimat gefunden hat.» (TA, 17. 4. 80)
Der wackere Stubenphilosoph Hans W.Grieder, der das geschrieben hat, scheint zwei Karteikarten verwechselt zu haben. Auf der Strasse verkauft hat Sartre die Zeitung (das Blättchen?) LA CAUSE DU PEUPLE, welche verboten war; ein Maoistenblatt. Er hat sie nicht deshalb, zusammen mit Simone de Beauvoir, verkauft, weil er die Gedanken Mao Tse-tungs enorm liebte, sondern weil er gegen Presseverbote war. Die Gedanken Mao Tse-tungs hat er im Gegenteil einmal «Kieselsteine, die man uns in den Kopf stopfen will», genannt. Aber als Erbe der französischen Aufklärung war er dafür, dass auch Meinungen verbreitet werden konnten, mit denen er nicht einig ging. Pressezensur war für ihn Freiheitsberaubung. Ob er bei LIBÉRATION eine «politische Heimat» fand, kann ich nicht sagen. Er war kein Heimatlicher. Jedenfalls war es ihm wohl dort. Und dass er «wohl eher ein Ausgenutzter» war, wird nur jemand schreiben, der sich die Beziehungen zwischen den Leuten nicht anders als ausbeuterisch vorstellen kann: also ein Bourgeois. Vor 5 Jahren noch hatte es umgekehrt getönt im «Tages-Anzeiger» (Ausland), da war aus der Küche des Pariser Korrespondenten Hans-Ulrich Meier (petit bourgeois) die Nachricht gekommen, Sartre verführe die Jugend und reisse sie zu unüberlegten Handlungen hin (gewalttätige Demos etc.). Sartre verführt die Jugend, die Jugend verführt Sartre – und wenn die Beziehungen zwischen ihm und «der Jugend» auf gegenseitiger Spontaneität beruhten?
«Allein, sein Auftritt in der besetzten Sorbonne (68) glich dann doch eher einer Abschiedsvorstellung: die Studenten hörten dem alternden Philosophen zwar höflich zu, ihre geistige Orientierung hatten sie sich längst anderswo geholt, bei Althusser etwa oder bei Marcuse.» (TA, 17. 4. 80)
Da hat er Glück gehabt, dass man ihm höflich zuhörte. Gibt es ein grösseres Kompliment für den Philosophen, als ihm (welch ein Tumult damals in der Sorbonne!) höflich zuzuhören? In die vom Staat besetzte, normale Sorbonne wäre Sartre nie gekommen, weder als Professor noch als Gastredner. Marcuse