Im Kleinbürgertum stecken christliche Rückstände, christliche Traditionen sind dort noch am ehesten verwurzelt. Wenn man diese einmal anders aktivieren könnte, nicht wie die Christdemokraten es tun, in einem konservativen bis reaktionären Sinn, sondern indem man an die revolutionäre Tradition des Christentums anknüpft, wie der aufständische Wiedertäufer Thomas Münzer …
Ernst Bloch: Da haben Sie ja ein Vorbild in der Schweiz. Meiner Ansicht nach ist die Schweiz das kleinbürgerlichste Land Europas. Wo sind denn in diesem kleinbürgerlichen Land mit einer guten Tradition, ich denke an Wilhelm Tell, heute die Ansätze? Die gab es einmal zur Zeit von Gottfried Keller, das ist jetzt alles weg. Noch bis in den Ersten Weltkrieg gingen sie hinein, die echten demokratischen Ansätze in der Schweiz. Das Antipreussische war tief demokratisch, die Abneigung gegen das Organisieren und so weiter. Die Abneigung gegen die «Schwaben» war weniger erfreulich. Aber etwas echt Demokratisches war drin. Und was wurde draus gemacht? Die Schweiz hat kapituliert vor Amerika, nicht vor dem Amerika Wilsons, sondern vor jenem, das nachher kam. Und unerträglich ist das Pharisäertum und die Selbstgerechtigkeit dieses schweizerischen Kleinbürgertums. Die haben's nötig!
Kein Land ist von seiner Tradition, von dem Gesetz, unter dem es angetreten ist, so abgefallen wie die Schweiz. Ich liebte damals die Schweiz, die ich während des Ersten Weltkriegs kannte. Da hat Süddeutschland einmal einen Kopf gehabt! Wie viele prachtvolle Fürsprechs habe ich damals kennengelernt, die wollten mich zum Ehrenbürger von Interlaken machen, damit ich nicht ausgewiesen würde. Auf diese Weise kann man innerhalb von fünf Minuten schweizerischer Staatsbürger werden. An dem Morgen, als das beschlossen wurde, kam ich ins Restaurant «Chrütz» oder ins «Fédéral», da war gerade die Revolution in Bayern ausgebrochen, da hat mich ein Berner Fürsprech umarmt und geküsst. Ich fragte: Und wie steht's nun mit dem Ehrenbürger von Interlaken? Wo jetzt endlich die deutsche Revolution ausgebrochen ist, da kann sich die Schweiz ausweiten zu einer Welt-Schweiz. Darauf meinte der Fürsprech Allenbach: Also hör, Ernst, jetzt müssen wir dir erst recht die schweizerische Staatsbürgerschaft verleihen, was du gesprochen hast, sagtest du als än rächte Schwiizer. Gut, darauf haben wir gelacht und wieder ein bisschen Roten getrunken. Und da hab' ich noch eins hinzugefügt: Konstanz geb' ich nicht her, das kommt mir nicht zum Kanton Thurgau! Also gut, da hab' ich die herrlichsten Freunde gehabt, war wie 'ne nachgeholte Pennälerzeit. Schulkameraden. Wir wurden alle jung durch die Ereignisse. Und ist keine Spur von Spiessertum gewesen. Und haben mir Geld gegeben, damit ich leben konnte. Das war damals noch der Citoyen, der in der Schweiz den Ton angab.* * Blochs erster Schweizer Aufenthalt dauerte vom Mai 1917 bis zum Januar 1919, als er, mit Wohnsitz in Bern und später Interlaken, eine Studie über pazifistische Ideologien in der Schweiz anfertigte und ca. 100 Artikel, z.T. unter Pseudonym, für die «Freie Zeitung» schrieb. Die Emigranten galten in Deutschland als Landesverräter, ihre Produkte konnten nur getarnt ins Reich geschmuggelt werden, so z.B. unter dem Titel «Winterkurorte in der Schweiz». Dieses erste Schweizer Exil hatte Bloch halbwegs aus freien Stücken gewählt, er war nicht aus Deutschland verbannt, konnte aber in der Schweiz mit Zeitungsartikeln Geld verdienen, die er in Deutschland nicht hätte schreiben können. Das zweite Mal kam Bloch, gefolgt von seiner zukünftigen Ehefrau Karola Piotrkowska, als politisch Verfolgter in die Schweiz, am 6. März 1933. Die beiden lebten zuerst in Küsnacht, dann in Zollikon (in der Wohnung des Schriftstellers Hans Mühlestein), hin und wieder auch im Tessin. Sie «verhalten sich insgesamt so, dass die Schweizer Behörden, ängstlich auf Wohlverhalten gegenüber Nazi-Deutschland bedacht, mit immer grösserem Unbehagen reagieren. (…) Im Sommer 1934 kommt die Ausweisungs-Verfügung der Berner Fremdenpolizei – ohne Begründung.» (Peter Zudeick, Ernst Bloch, Elster-Verlag 1987) Am 15. September müssen sie die Schweiz verlassen: Karola fährt zu ihren Eltern nach Lodz, Ernst vorläufig an den Comersee. Sie können von Glück reden, dass sie nicht direkt den Nazi-Behörden ausgeliefert werden. Auskünfte von Karola & Ernst Bloch
NM: Wann hat der Petitbourgeois überhandgenommen, dieses verkrustete Kleinbürgertum?
Ernst Bloch: Wer jetzt dorthin fährt, der kennt die Schweiz nicht wieder. Ich möchte auch gar nicht mehr nach Interlaken fahren, so gerne ich die Enkel und Kinder meiner Freunde auch treffen möchte. Ich habe so gerne in der Schweiz gelebt. Und habe solche Dankbarkeit für sie gehabt. Und der gute Ton der Gespräche damals! Und aufrecht gehende Leute, auch wenn's nicht alle gemacht haben. Corruptio optimi pessima. Von Deutschland hat man nicht viel erwartet, aber dass die Schweiz so verspiessert … Das war auch die Zeit, als Liebknecht, Rosa Luxemburg und Lenin in der Schweiz Unterkunft gefunden haben, während später, in den dreissiger Jahren, hat man Juden und Kommunisten an der Grenze zurückgeschickt. Und wir wurden ausgewiesen.
Karola Bloch: Dass wir im Gefängnis waren in der Schweiz, das wissen Sie? Das war 1933. Sommer '33. Wir waren in Ascona im Urlaub. Und wie wir dann wieder nach Zürich zurückreisen wollten, wo ich studiert habe an der ETH, übrigens bei einem echten Faschisten, einem Professor Weiss …
Ernst Bloch: Auch der Hausbesitzer, wo wir wohnten, war ein Fröntler, Oeser oder so ähnlich hat er geheissen. Die Freunde haben uns immer so erstaunt angeschaut, wenn wir sagten, wir wohnten im Hause von Oeser, bis wir dann herausgefunden haben, dass er ein Fröntler war.
Karola Bloch: … und als wir wegreisen wollten, kommt plötzlich ein Mann auf uns zu, klappt das Mantelrevers so zurück und sagt: Polizei, sie sind verhaftet, bitte machen sie keinen Widerstand. Das war auf dem Bahnsteig. Ich hab' gesagt: Ja, und was ist mit unserem Gepäck, das Gepäck kommt doch aus dem Hotel, kümmern Sie sich darum, dass alles erledigt wird! Und wir kamen also zum Verhör, getrennt, und er fragte mich: Wieviel Sprachen sprechen Sie eigentlich? Und ich habe gesagt: Oh, ich spreche eine ganze Menge, ich bin Polin, und bei uns lernt man also viele Sprachen. Jaja, Sie müssen schon viele Sprachen können, meinte er. Müssen muss ich gar nix, hab' ich gesagt. Weil ich nicht so gut Italienisch konnte, wollte ich französisch mit ihm weiterreden. Ach, Sie können glänzend Italienisch, sagte er und fuhr auf italienisch weiter. Und an irgendeinem Punkt hat er mir dann gesagt: Also machen Sie mir nix vor, Sie sind selbstverständlich eine Komintern-Agentin. Es stellte sich dann heraus, dass die Polizei Briefe beschlagnahmt hatte, welche politisch aktive Freunde an mich geschrieben hatten.
Dann sassen wir im Gefängnis, eine Nacht in Locarno und eine Nacht in Bellinzona, und dann hat man uns freigelassen, und ich stand unter Polizeiaufsicht in Zürich. Und nur dadurch, dass Mühlestein und andere prominente Schweizer sich für uns eingesetzt haben, sind wir nicht sofort ausgewiesen worden, sonst hätte ich mein Diplom nicht machen können. Aber kaum war das Diplom da, haben sie uns beide ausgewiesen. Eigentlich dürften wir auch jetzt nicht in die Schweiz einreisen.
Ernst Bloch: Der Wortlaut der Ausweisung hiess so: «Weil die Voraussetzungen, die früher zur Erteilung einer Duldung innerhalb der schweizerischen Grenzen geführt haben, nicht mehr vorzuliegen scheinen.» «Scheinen» dazu noch. Die zur Erteilung einer Duldung! Eine Unverschämtheit ist schon das Wort Duldung.
Karola Bloch: Aber ich bin sehr froh, dass ich mal im Gefängnis war. Da waren Wanzen in dieser Zelle. Ich konnte gar nicht schlafen. Und das Essen war abscheulich. Ich habe natürlich diese Situation ausgenutzt als politisch aktiver Mensch, um zu schimpfen gegen die schweizerischen Gefängnisse. Dem Mann, der da jeweils zu mir kam und mir etwas zu trinken brachte, abscheuliche Brühe, Wasser, in dem so paar Nudeln schwammen, eine Schande!, habe ich dem gesagt, und die Wanzen! Schämen Sie sich, in der Schweiz, die so Anspruch hat, hygienisch zu sein, dass Sie Wanzen haben in der Zelle, das gibt's doch gar nicht mehr. Also ich schimpfte wie ein Rohrspatz. Und mein Mann war irgendwie viel klüger als ich, vielleicht dadurch auch, dass er mehr so Krimis gelesen hat und mehr wusste, wie man sich in einem Gefängnis benimmt – obwohl – ich hab' ja die politische Literatur gekannt –, und er hat gesagt: Ich bin ja nur ein Untersuchungshäftling, da kann ich ja noch etwas verlangen, und da hat er zu diesem Gefängniswärter gesagt: Nehmen Sie doch vom Geld, das ich hinterlegen musste, und bringen Sie mir Schinken und Weissbrot und Chianti und so weiter und dasselbe für die Dame. Wir waren damals noch nicht verheiratet, wir haben sogar gedacht, dass man uns wegen Zuwiderhandelns gegen den Konkubinatsparagraphen verhaftet hatte. Und der bringt mir tatsächlich alles und sagt: Der Herr da schickt es Ihnen.
Ernst Bloch: Hab' den Wärter auch zum Essen eingeladen. Und er hat akzeptiert. Wir kamen ins Gespräch, er sagte: Sie