nur die wenigsten. Aber Sartre und seine politische Interventionsliteratur, seine Auftritte gegen Algerien- und Vietnamkrieg kannten alle. Darum haben sie «dem alternden Philosophen» höflich zugehört. Auf mich hat er damals verjüngend gewirkt. Sich selbst hat er auch verjüngt, immer wieder.
Von den Bürgern als Handlanger Moskaus, als Terrorist (Besuch bei Baader), als Mitläufer; von den strammen KP-Intellektuellen wie Kanapa als Agent der Wallstreet, als politischer Abenteurer, bei Bedarf auch als «klebrige Ratte und geile Viper» bezeichnet: – man sieht, es handelt sich um einen Intellektuellen. Die «Humanité» fand ihn ab 1968 gaga, wie kann man als ernsthafter Philosoph sich so weit herablassen, einen Cohn-Bendit zu interviewen? Der «Figaro» fand ihn kindisch, wie kann man sich dazu versteigen, am Russell-Tribunal gegen den Vietnamkrieg (das Gericht hatte keine vollziehende Gewalt) einen US-Präsidenten der Kriegsverbrechen zu beschuldigen? Wären nicht einige Gesetze im Wege gestanden: viele von den chauvinistischen Krähern hätten ihn gerne umgebracht. Seine Wohnung wurde gebombt, und man hasste ihn dauerhaft. Debré wollte ihn verhaften lassen, de Gaulle war dagegen (Sartre hatte das Manifest der 121 – Recht auf Fahnenflucht im Algerienkrieg – unterschrieben). Wäre die kp allein an der Macht gewesen, sie hätte ihn vermutlich ausgewiesen oder eingesperrt oder nach Savoyen oder in die Bretagne deportiert und seine Spuren getilgt, so wie sie das Andenken des alten Widerstandskämpfers Charles Tillon auslöschte und die Erinnerung an Sartres Freund Paul Nizan in ihren Reihen vernichten wollte (beides ehemalige Genossen). Aus der Partei konnte man Sartre nicht ausschliessen. Er war nie drin, in keinem Apparat.* * Im «Tages-Anzeiger» stand (eine AFP-Depesche), er sei von 1952–56 KP-Mitglied gewesen. Das ist falsch. Nicht wie Louis Aragon, der fast alle Spitzkehren der Parteilinie treu und bieder mitmachte und der 1968 ganz verwundert war, als ihn die Studenten einen «alten Chlaus» (vieille barbe) nannten; und nicht wie André Malraux auf der andern Seite, dem der Stil im Alter abhanden gekommen war, als er, Minister gewordener Geist, mit dem gaullistischen Kulturapparat hantierte.
Nicht alle haben begriffen, dass seine Begeisterung für Castros Revolution und seine Abneigung gegen Castros Repression vom gleichen Impuls gesteuert wurden. Er war 1960 nach Kuba gereist und ziemlich begeistert nach Hause gekommen. Später hatte er dagegen protestiert, dass der kubanische Dichter Heberto Padilla wegen Gesinnungsdelikten eingekerkert und als Schwuler gebrandmarkt wurde. (Soll man sich lange mit einer unbedeutenden Minderheit beschäftigen, wenn es der Mehrheit dank Revolution bessergeht?) Auch sein Protest gegen den französischen und amerikanischen Vietnamkrieg kam aus der gleichen Wurzel wie die Auflehnung gegen die Vertreibung der BOAT PEOPLE aus dem sozialistischen Vietnam. Was mag es ihn 1979 gekostet haben, gemeinsam mit seinem alten Freund-Feind Raymond Aron, diesem «chien de garde» des Bürgertums (ein Wort von Paul Nizan) und Editorialisten des «Figaro», im Elysée vorzusprechen, bei einem Präsidenten, der alles repräsentiert, was der Philosoph hasste (Vorrecht der Geburt, Süffisanz, Heuchelei), um ein Wort für die Flüchtlinge einzulegen und den Staat soweit zu bringen, möglichst viele Vietnamesen aufzunehmen? Auch bei Afghanistan mag es ihm nicht leicht gefallen sein, da hat er sogar den Olympia-Boykott unterstützt. (Pfui!) Er tat es nicht aus Liebe zur amerikanischen Politik, die er hasste wie kein zweiter, sondern aus Abscheu gegen die sowjetische Intervention. Er reiste viel: UdssR, Tschechoslowakei, Naher Osten, besuchte Flüchtlingslager, bidonsvilles, kannte die Verdammten dieser Erde in Südamerika, Afrika und auch in Billancourt (die farbigen Fremdarbeiter bei Renault) und schrieb deshalb sein Vorwort zum Buch von Frantz Fanon: «Les damnés de la terre». Er gehörte nicht zu jenen Stubensozialisten, die jedesmal, wenn ein Land sozialistisch geworden ist, auf ihrer Generalstabsweltkarte triumphierend ein neues rotes Fähnchen einstecken. Er wollte auch noch wissen, was dieser Sozialismus konkret bedeutet. Die Intellektuellen aller Länder, les damnés de toute la terre, kamen bei ihm vorbei und haben erzählt. Er war informiert.
Als er starb, wurde das nur in einer der drei vietnamesischen Tageszeitungen, die in Hanoi erscheinen, erwähnt. (Keiner hatte in Europa so heftig wie er gegen die Vietnamkriege agitiert.) In «Hanoi Moi» kam eine Notiz von vier Zeilen, ohne Kommentar, er sei jetzt gestorben, im Alter von 75 Jahren.
Tja.
Billancourt war ein Schlüsselwort. «Il ne faut pas désespérer Billancourt», sagte er, 1950, als die Existenz der russischen Konzentrationslager nicht mehr zu übersehen war. «Wir dürfen die Arbeiter nicht zur Verzweiflung bringen, indem wir ihnen die Hoffnung nehmen, die aus der UdssR kommt.» Die Lager hat er in seiner Zeitschrift schon 1950 beschrieben, aber ihre Bedeutung für den Zusammenbruch einer optimistischen, Moskau-orientierten Eschatologie hat er lange angezweifelt. Man müsse Opfer in Kauf nehmen, Grausamkeit gebe es überall (eine Million Algerier starben im letzten französischen Kolonialkrieg) usw.
Er hat verzweifelt die Allianz mit den Arbeitern gesucht, deren Hoffnung er bis ca. 1960 bei der kp aufgehoben glaubte, während er schon vorher wusste, dass die Partei für echte Intellektuelle keinen Platz hat. Illusionen hat er sich dabei nicht gemacht. In seinem Vorwort zu Paul Nizans «Aden Arabie» schreibt er 1960:
«Wenn die kommunistischen Intellektuellen zu Scherzen aufgelegt sind, nennen sie sich Proletarier. ‹Wir verrichten manuelle Heimarbeit.› Klöpplerinnen gewissermassen. Nizan, der klarer dachte und anspruchsvoller war, sah in ihnen, in sich selbst, Kleinbürger, die die Partei des Volkes ergriffen hatten. Die Kluft zwischen einem marxistischen Romancier und einem Facharbeiter ist nicht überbrückt: man lächelt einander über den Abgrund hinweg freundlich zu, aber wenn der Schriftsteller einen einzigen Schritt tut, stürzt er in die Tiefe.»
1972 hat er die Kluft wieder einmal überbrücken wollen, schlich sich illegal mit ein paar Genossen in das Renault-Werkgelände von Billancourt ein, wollte eine Rede halten gegen die willkürliche Entlassung von Fremdarbeitern, wurde von der Werkpolizei unsanft hinausgeworfen (nicht von den Arbeitern, die ihm so höflich zuhörten wie die Studenten 1968) und hielt die Rede dann auf einer Öltonne vor dem Werktor. Das hat ihm die sarkastischen Bemerkungen aller bürgerlichen Journalisten eingetragen, die noch nie gegen Entlassungen bei Renault protestiert haben.
Sartre über einen anderen Freund, Merleau-Ponty:
«1950, in dem Augenblick, in dem Europa die Lager entdeckte (die in der UdssR, N.M.), sah Merleau endlich den Klassenkampf ohne Maske: Streiks und ihre Niederwerfung, die Massaker von Madagaskar, der Krieg in Vietnam (der französische, N.M.), McCarthy und die grosse amerikanische Angst, das Wiedererstarken der Nazis, überall die Kirche an der Macht, die salbungsvoll ihre Stola über den neu erstehenden Faschismus breitete: wie sollte man nicht den Aasgestank der Bourgeoisie riechen? Und wie konnte man öffentlich die Sklaverei im Osten verdammen, ohne bei uns die Ausgebeuteten der Ausbeutung zu überlassen? Konnten wir aber akzeptieren, mit der Partei zusammenzuarbeiten, wenn das bedeutete, Frankreich in Ketten zu legen und mit Stacheldrahtzäunen zu bedecken? Was tun? Blind nach links und rechts drauflosschlagen, auf zwei Riesen, die unsere Streiche nicht einmal spüren würden?» («Les Temps Modernes», Sondernummer für Merleau-Ponty, den Mitherausgeber der Zeitschrift, 1961.)
Auch damals, als er der kp nahestand, hatte er mehr Distanz zum Stalinismus, als ihm die bürgerlichen salauds zutrauten.
Er hat die literarischen Kategorien durcheinandergebracht genau wie die politischen und die bürgerliche Kultur, welche ihm an der Ecole Normale Supérieure eingetränkt wurde, verhöhnt und zugleich weiterentwickelt. Nur Gedichte hat er nicht gemacht, sonst alles beherrscht, oder besser gesagt, alle Formen haben ihn beherrscht: Roman, Drama, Essay, Traktat, Pamphlet, Reportage. 1945 schrieb er als Redaktor der Zeitschrift «Les Temps Modernes»:
«Es scheint uns, dass die Reportage eine literarische Form ist und dass sie eine der wichtigsten werden kann. Die Fähigkeit, intuitiv und schnell die Wirklichkeit zu entschlüsseln, mit Geschick das Wichtigste herauszuarbeiten, um dem Leser ein synthetisches Gesamtbild zu vermitteln, das sofort zu entziffern ist – das sind die wichtigsten Reportereigenschaften, die wir bei allen unsern Mitarbeitern voraussetzen.»
Seine Autobiographie («Les Mots») war zugleich Roman, literarische Psychoanalyse, private Zeitgeschichte, Seelenreportage. «L'être et la néant» ist Philosophie und zugleich ein Pamphlet dagegen. Seine Flaubert-Biographie ist nirgendwo einzuordnen: innerer Monolog, Fortsetzung von Flauberts Werk, Weiterführung der eigenen Biographie. Man hat den Literaten allgemein bewundert,