Niklaus Meienberg

Reportagen 1+2


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ist für uns, die wir die Ereignisse erlebten, wertvoll, gleich wie für die nachkommenden Eidgenossen. Die Zeit und ihre geistigen Erscheinungen verdienen festgehalten zu werden. Sie haben mit grossem Ernst Ihre Soldatenerlebnisse – mir genau so in Erinnerung stehend wie Sie selbst als Aspirant Inglin – geschildert und mit gut eidgenössischer Gesinnung die politischen Ereignisse geschildert. Ihr Schweizerspiegel verdient weite Verbreitung im Schweizerland. Der Erfolg Ihres Buches wird ein grosser sein. Mit freudiger Erinnerung an Ihre Feldoffiziersschule und mit herzlichen Grüssen, Ulrich Wille, Oberstkorpskdt.»

      Später ist Inglin dann von Prof. Emil Staiger kräftig gefördert worden; er hat ihm das Ehrendoktorat der Universität Zürich zu verdanken. Das war gut eidgenössische Literatur im Sinne dieses Germanisten, der noch 1942 auf einer Liste frontistischer Offiziere, welche die Zeitschrift DIE NATION veröffentlichte, figurierte (Staiger fühlte sich von dieser Feststellung nicht beleidigt, hat kein Dementi geschickt), bevor er dann 1967 die entartete Kunst in den Senkel stellte. Und dass Staiger noch während des Krieges Hitlers «Mein Kampf» ein bedeutendes Werk nannte, wie Hans Mayer sich erinnert, konnte Inglin vermutlich auch nicht wissen, und dass er für Fritz Rieters «Schweizer Monatshefte» einige von den literarischen Neuerscheinungen besprach, die in Nazideutschland publiziert wurden, war ihm vielleicht auch verborgen geblieben – wie so vieles andere, obwohl sie doch hin und wieder miteinander auf die Pirsch gegangen sind in der Gegend von Schwyz (Gemsen), der Professor und sein ländlicher Dichter.

      Vom Heidi, seiner Reinheit und seinem Gebrauchswert

      Heidi hat mir einen Vorgeschmack der Alpen und ihrer Reinheit gegeben, als ich kaum richtig lesen gelernt hatte, und da war ich etwa so alt wie der Geissenpeter, der seinerseits nicht lesen konnte, und die Alpen hatte ich damals noch nie gesehen. Das Buch war kartoniert, abgegriffen, die Illustrationen halfen der Phantasie, die durch das stockende Lesen eher angestachelt wurde, noch weiter auf den Sprung, so dass die Hügel, in welche meine ostschweizerische Vaterstadt eingebettet war, beim Lesen ins Unermessliche, Spitzige wuchsen und die kleine Schwester, die auf -i auslautete, aber leider, wie ich damals fand, nur Ursi und nicht Heidi hiess, durchaus bukolische Züge annahm. Ein Grossvater – Alpöhi! – war in der Familie leider nicht mehr vorrätig, aber die Grossmutter gab es noch, eine ausgesprochen gütige Person, die den Vergleich mit der Sesemannschen Grossmama nicht zu scheuen brauchte, so dass die reale Ahnfrau mit der geschilderten zu einem Inbild verschmolz. Die Grossmutter nannte man übrigens Grosi, so wie man den Taufpaten Götti nannte, während der Vater Vati hiess. Vati Grosi Götti Ursi Heidi – das Geschöpf der Johanna Spyri passte nahtlos in die Familie, zu der u.a. Chläusi, wie man den Schreibenden damals nannte, gehörte. Dieser begann denn auch bald, seine Schwester Ursi am Heidi zu messen, und obwohl die erstere mit ihren blonden Zapfenlocken einigermassen bezaubernd wirkte, fiel der Vergleich nicht zu ihren Gunsten aus, weil sie nämlich noch nie im Ausland gewesen war und ausserdem auch nichts von den Geissen und der Geissenmilch und dem Alpglühen zu erzählen wusste – in unserer Nachbarschaft gab es fast nur Schafe und Kühe. Wie dumm die Kühe doch waren, wie blöd die Schafe, verglichen mit den witzigen Ziegen (Schwänli & Bärli). Die unerlaubt brutalen, formlosen Kuhfladen, der unästhetische Schafdreck liessen bereits auf einen schlechten Charakter dieser Tiere schliessen, während die Geissen zierliche GEISSEBÖLLELI, wie man das im Dialekt nennt, hinterliessen, etwas Abgerundetes, fest Umgrenztes, sozusagen Schweizerisch-Sauberes, eine miniaturisierte Version der Rossbollen. Ursi muss schwer darunter gelitten haben, dass ich sie immer mit Heidi verglich, denn Heidi war damals realer und zugleich idealer als die leibhaftige Schwester, welche den Anforderungen, die der Bruder an sie stellte, nicht gewachsen war. Das wurde schon durch die Tatsache erhärtet, dass Ursi, obwohl vom Bruder mehrmals ermuntert, sich durchaus nicht dazu entschliessen konnte, als Nachtwandlerin das Haus zu verlassen, wie Heidi das mehrmals getan hat (in Frankfurt).

      Auch das Heimweh habe ich dank Johanna Spyri trainiert, bevor ich es erlebte, Heidis Heimweh, ebenfalls den Hass, Heidis Hass auf Fräulein Rottenmeier, die fürchterliche, die ich ohne Federlesen hätte umbringen können. So wurden die Gefühle eingeübt, bevor sie noch ein wirkliches Objekt hatten. Trockenschwimmkurse. Als das wirkliche Heimweh dann zum ersten Mal kam, in den Ferien beim Götti, konnte ich auf Heidis Heimweh nach den Alpen – die ich, wie gesagt, noch nie gesehen und nach denen ich also kein Heimweh haben konnte – zurückgreifen. Es hatte mir vorgeweint, und ich musste nur in seine Fussstäpfchen treten, schon ging es mir beträchtlich besser. Mit dem Hass hingegen war es schwieriger, ein derart tiefes Gefühl, wie es Fräulein Rottenmeier provozierte, eine so durch und durch giftige, hassenswerte Person war lange Zeit weder in der Familie noch sonst im Bekanntenkreis aufzutreiben, und so blieb denn der Hass bis weit über die Primarschulzeit hinaus ein freischwebender, freischaffender, ein durch und durch rottenmeierisch geprägter, der sich seinen Gegenstand erst suchen musste und ihn dann relativ spät im Lateinlehrer fand, oder vielleicht hat die frühe Heidi-Lektüre diesen Nachtmahr recht eigentlich erschaffen, vielleicht war er in Wirklichkeit nicht so schlimm, hatte nur einige gouvernantenhafte Züge mit Frl. Rottenmeier gemeinsam, und die restlichen habe ich ihm dann grosszügig angedichtet, um den Prototyp namens Rottenmeier endlich in der Wirklichkeit erleben zu dürfen. Er hat mir die negativen Gefühle alsbald reichlich zurückerstattet, und so waren denn Johanna Spyri schliesslich die miserablen Lateinnoten zu verdanken, und der Familienrat beschloss, mich in eine alpine Lateinschule zu stecken und aus dem Dunstkreis jenes Lehrers zu entfernen, und wurde der Schreibende dann – was er Heidi nicht alles verdankt! – im bündnerischen Internat zu Disentis, wo es damals noch massenhaft Geissen gab, eingeweckt. Dort hat er fünf Jahre in einer Landschaft, die in den fünfziger Jahren noch fast so unschuldig war wie jene von Maienfeld, also die Heidi-Urlandschaft, inmitten von Bergen und Benediktinern leben dürfen, die Luft war würzig, die Gräslein auch, der klösterliche Studentenfrass weniger, und der gregorianische Choral vermischte sich mit dem Geissenglöckleingebimmel. Aber vom anmutigen Mädchen (Dialekt: Maitli) – nicht die Spur. Das ideale Heidi hätte jetzt ein wenig älter sein müssen als jenes im Buch, und den Blick auf ein solches konnte man nur in der Maiandacht erhaschen. Es war eine reine Männergesellschaft. Jedweder Verkehr mit dem andern Geschlecht war untersagt; das Träumen nicht. Unsere zölibatäre Phantasie blühte mindestens so stark wie die von Johanna Spyri, welche die Traumfigur des Heidi als alleinstehende, verwitwete Matrone geschaffen hat.

      Später, Anfang der achtziger Jahre, hat mir Heidi, mein Heidi, jene archetypische, in das kalt-gigantische Deutschland verschlagene Unschuld, nochmals auf die Sprünge geholfen bzw. gute Dienste geleistet. Beim «Stern» – ich wurde, als einfacher Schweizer, einen Monat lang im hamburgischen Mutterhaus, im grossen Spital an der Alster, eingeweckt und mit dem Haus-Geist vertraut gemacht, bevor ich für kurze Zeit die Stelle eines Pariser Korrespondenten antrat – spielte ich mit einigem Erfolg das Heidi. Wie hätte man sich in jener Anstalt, die von zahlreichen Rottenmeiers, männlichen und weiblichen, bevölkert war, anders zur Wehr setzen können? Jenen Schlafwandler-Part brauchte ich allerdings nicht zu übernehmen, den spielten die Herren Chefredakteure Schmidt & Koch und der Vorstandsvorsitzende Schulte-Hillen, es war nämlich die Zeit der Inkubation der «Hitler-Tagebücher», aber sonst kam mir die Rolle zupass. Wenn man mit brummendem Schädel aus dem Konferenzsaal kam; wenn die Intrigen so üppig ins Kraut geschossen waren, dass niemand mehr den Durchblick hatte; wenn die Chefredakteure sich wieder einmal wie Offiziere gebärdeten und die Zeitung mit einer Kaserne verwechselten; wenn Herr Koch – (bzw. Fräulein Rottenmeier, also die Gouvernante) – «sehr aufrecht zur Musterung der Dinge durch das Zimmer ging, so wie um anzudeuten, dass, wenn auch eine zweite Herrschermacht [= Herr Schmidt] herannahe, die ihrige dennoch nicht am Erlöschen sei» (Johanna Spyri), und wenn der Schreibende partout NIKLAS oder NIKOLAUS genannt wurde, statt eben NIKLAUS, wie es bei ihm zu Hause Brauch war, und also sogar sein Name mutierte, HEIDI hatte man in Frankfurt zur ADELHEID machen wollen – dann konnte er seine Haut nur retten, indem er die Unschuld vom Lande spielte und in kitzligen Situationen immer wieder betonte: «Für Heidi ist das alles viel zu gross», wodurch er sich eine gewisse Narrenfreiheit sicherte und man ihn bald im Haus ganz allgemein «das Heidi» nannte. Fehlte nur die gutige Grossmama. Nannen kam für diese Rolle nicht in Betracht, obwohl eine gewisse Altersweichheit, um nicht zu sagen Alterserweichung, bei diesem schlohweissen Herrn sofort auffiel. Aber von den Bediensteten, den Dienstbotennaturen, Kutschernaturen im Stile der Spyrischen Johanns und Sebastians und Tinettes, war wirklich, so schien es dem