Niklaus Meienberg

Reportagen 1+2


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im Strafprozess zu untersuchen, er wird bald entsprechende Dossiers veröffentlichen, vielleicht werde ich ihm die Expertise des Psychiaters Dr. Hans-Oscar Pfister zeigen, bis vor kurzem Stadtarzt und Aushebungsarzt von Zürich, der den Landesverräter Ernst S. im Gefängnis untersucht hat, welche Untersuchung mit der Zerknirschung und dem Todeswunsch des Delinquenten S. endete.

      Das Gefängnissystem als grosses Projekt der sozialen Orthopädie. Gefängnisse waren nicht einfach «als Depot für Kriminelle» geplant, sondern man glaubte Anfang des 19. Jahrhunderts ehrlich und wirklich an eine Besserung und deshalb neue ökonomische Verwendbarkeit der Delinquenten. Und doch war der Misserfolg «fast so alt wie das Projekt», sagt Foucault. «Man konstatierte seit 1320, dass die Gefängnisse nur neue Kriminelle produzieren, anstatt die alten zu korrigieren, oder dass sie die Kriminellen nur noch weiter kriminalisierten. Und da hat, wie immer in den Machtmechanismen, eine strategische Verwendung dieser ursprünglich als negativ empfundenen Tatsache stattgefunden. Man hat gemerkt, dass die Kriminellen nützlich sein können, im ökonomischen wie im politischen Bereich. Zum Beispiel kann man dank ihnen Profit machen mit der Ausbeutung der sexuellen Lust: Jetzt wird, im 19. Jahrhundert, das grosse Gebäude der Prostitution errichtet, und das war nur möglich dank den Kriminellen (Zuhälter usw.), welche ein Scharnier wurden zwischen der teuren täglichen sexuellen Lust und ihrer Kapitalisation.» (In Marseille z.B. spielt das von der Polizei genau kontrollierte korsische Gaunermilieu eine wichtige politökonomische Rolle: als Detailhändler von Heroin, als Zuhälter und als Schlägertrupps für die Regierungspartei.) «Wie jedermann weiss, hat Napoleon die Macht ergriffen dank einer Gruppe von Kriminellen. (Auch Giscard hat seine Wahlkampagne teilweise mit Kriminellen bestritten.) Und wenn man sieht, wie sehr die Arbeiter die Kriminellen immer gehasst haben, dann begreift man, dass diese gegen die Arbeiter eingesetzt wurden, in den politischen und sozialen Kämpfen, als Streikbrecher, Schlägerbanden, Spitzel usw. Das Gefängnis wurde zum grossen Rekrutierungsinstrument. Das Gefängnis professionalisierte die Kriminellen. Wenn einer entlassen wurde, war er infam und geächtet, er konnte nichts anderes tun als wieder delinquieren, und das System machte notwendigerweise einen Polizisten, einen Zuhälter oder einen Spitzel aus ihm. Anstatt wie im 18. Jahrhundert, wo nomadisierende Räuberbanden mit oft grosser Wildheit über Land zogen, hatte man jetzt dieses ganz abgeschlossene Delinquentenmilieu, von Polizeispitzeln durchsetzt, ein wesentlich städtisches Milieu.» Zur gleichen Zeit beginnen die Kriminalromane zu florieren und die Ausschlachtung von «Unglücksfällen und Verbrechen»; die Untaten müssen dem Volk möglichst drastisch vor Augen geführt werden, um die arbeitsamen Leute ganz scharf vom Delinquentenmilieu abzugrenzen und um den Armen zu erklären, dass die Verbrecher auch für sie und nicht nur für die Reichen gefährlich sind.

      Des Philosophen Grabesstimme

      Zwei Männer schreiben eine Biographie. Der berühmte Philosoph und Papst des französischen Marxismus und Mörder seiner Frau, Louis Althusser, seine eigene; und der Historiker Moulier-Boutang die von Louis Althusser. Beide sind jetzt erschienen. Dabei werden uns zwei verschiedene Lebensläufe vor Augen geführt, auch wenn sie streckenweise deckungsgleich sind. Beiden entsteigt man nach der Lektüre wie einem Säurebad, also ziemlich aufgelöst. Die lebenslange Verzweiflung und allgegenwärtige Düsternis des Louis Althusser «lassen Sartres ‹Ekel› [la nausée] wie einen Pennälerwitz und ‹Die Pest› von Albert Camus wie eine harmlose Epidemie erscheinen» (Moulier-Boutang).

      Althusser? Bisher als Verfasser von ebenso knochentrockenen wie scharfsinnigen Traktaten, als langjähriger Professor des Elitetreib- und Triebhauses Ecole Normale Supérieure und Mitglied der Kommunistischen Partei bekannt. Elegant hat er zwar immer geschrieben, ausgefeilt und präzis, ein schmales Werk («Pour Marx», «Lire le Capital» usw.), sein Einfluss in Frankreich war eminent, er hat die philosophische Debatte in Sachen Reformkommunismus oder Eurokommunismus dominiert. Er hat sich gegen die Instrumentalisierung der Philosophie gewehrt, gegen das «enorme theoretische Vakuum der französischen Marxisten, welche, meist kleinbürgerlichen Ursprungs, zur Partei gestossen sind und, weil sie nicht Proletarier waren, ihre imaginäre Schuld abzutragen glaubten, indem sie einem reinen Aktivismus verfielen» («Pour Marx»). Dass er aber als Person existierte, 1918–1990, dass er litt, verzweifelte, etwa die Hälfte seines Lebens in psychiatrischer Behandlung und/oder Irrenhäusern verbrachte, ständig, schon als Kind, von Selbstmordgedanken geplagt war, hat er nie beschrieben: bis er jetzt, als Toter, seine Autobiographie publizieren liess. Sie wirft den Leser um. Er steht wieder auf, und Moulier-Boutang boxt ihn nochmals um. So war das also! Er hat die Rolle als Guru mit seiner Selbstzerstörung erkauft. Althusser, manisch-depressiv, als Schriftsteller grossartig, tot und sehr lebendig, und man sieht, wie sein philosophisch-marxistisches Über-Ich, früher sein katholisches, den Schriftsteller Althusser abgemurkst hat, so wie er am 16. November 1980 seine Frau Hélène erwürgt hat, in der Umnachtung.

      Ist die Mutter an allem schuld, ein bisschen auch der Vater? Wenn man Althusser glaubt: ja; wenn man Moulier-Boutang liest: nur bedingt. Althusser über seine Mutter (Kindheitserinnerungen): «Wir fuhren damals oft in jene Gegend namens Fougères, (…) und der Wagen wurde von einer fetten, ruhig dahintrottenden Stute gezogen. Ich sass neben dem Kutscher und sah, wie der dicke Arsch der Stute sich bewegte. In der Mitte hatte es einen schönen feuchten Spalt, der mich interessierte, ich wusste damals nicht, weshalb. Aber meine Mutter vermutete es an meiner Stelle, denn sie hiess mich hinten Platz nehmen, von wo aus ich die Stute nicht mehr sehen konnte, aber am Strassenrand sah man jetzt Hähne, welche die Hühner bestiegen. Ich zeigte sie meiner Mutter lachend, es war komisch, aber sie fand das nicht lustig und schimpfte: Lach doch nicht vor Monsieur Faucheux, er wird denken, dass du ein Ignorant bist. Wovon? Ich habe es nie erfahren.»

      Die Mutter hatte bekanntlich einem Louis Althusser die Ehe versprochen oder war diesem von ihren/seinen Eltern versprochen worden. Louis stürzte im Ersten Weltkrieg mit seinem Flieger über Verdun ab, worauf sie von dessen älterem Bruder geheiratet wurde. Darauf idealisierte die Mutter den Verstorbenen, welchen sie fleischlich nie kennengelernt hatte, perhorreszierte ihren wirklichen Mann, weil er dem Idealbild nie genügen konnte, nannte ihren Sohn LOUIS und übertrug ihm die Rolle des toten Verlobten. Der Vater war Bankangestellter, dann Direktor, senkrecht, aber zu Hause schweigsam, erst im Freundeskreis auftauend. Wenig Kultur zu Hause; Althusser liebäugelt offensichtlich mit dem Kindheitsmilieu von Sartre, wie es in «Les mots» erscheint: riesige Bibliothek und kein Vater. Die späteren Schwierigkeiten mit den Frauen, seine Angst vor der Sexualität, schliesslich die Ermordung seiner Frau, sieht er, explizit oder implizit, als Folge des mütterlichen Liebesvakuums. Nachdem er z.B. das erste Mal mit seiner Zukünftigen geschlafen hatte, sei er sofort krank geworden, der beste Psychiater auf dem Platz Paris habe eine «dementia praecox» diagnostiziert. Die Therapie: «Damals wurden die Elektroschocks ohne Narkose oder Curare verabreicht. Wir waren alle in einem grossen hellen Saal versammelt, Bett an Bett, und der Vorsteher von untersetzter Gestalt und schnauzbärtig, weshalb die Kranken ihn Stalin nannten, bugsierte seinen elektrischen Kasten von einem Kunden zum andern und setzte allen Konsumenten sukzessive den Helm auf. Man sah, wie der Nachbar sich reglementär in einer epileptischen Krise aufbäumte, man konnte sich vorbereiten und das berühmte zerkaute Tuch zwischen die Zähne nehmen, welches mit der Zeit nach Strom schmeckte. Es war ein schönes kollektives Schauspiel und sehr erhebend.»

      Das war zur Zeit, als Althusser seine Neigung für Stalin entdeckte, dessen Praxis er lange verteidigte. Es sieht aus, als ob Stalin ihm philosophische Elektroschocks verabreicht hätte. Im Kampf gegen die verhasste Bourgeoisie (sein eigenes Milieu), welche mit Hitler kollaboriert hatte, und im Engagement für die Habenichtse (zu denen er nicht gehörte) war ihm zeitweise jeder Verbündete recht. Althusser sah Stalin als neuen «motorisierten Weltgeist», sozusagen. Der Weltgeist hat immer recht, er kennt das Ziel der Geschichte und nimmt, im Hinblick auf das künftige Goldene Zeitalter, alle Grausamkeiten der Gegenwart in Kauf. Hegel sah in Napoleon, als dieser nach der Verwüstung von Jena durch die französischen Soldaten unter seinem Fenster vorbeiritt, den «Weltgeist zu Pferde» verkörpert, und der hegelianische Althusser lokalisiert den Weltgeist in Stalins Panzern, welche Osteuropa befreien und besetzen. Augen zu und durch! Und er träumte anscheinend von einer paulinischen Rolle. Paulus hatte das Christentum aus der jüdischen Kultur in die römische verpflanzt, Althusser wollte das Christentum dem neuen Rom, also Moskau, aufpfropfen, und zu dem Behuf hätte es zuerst den atheistischen Marxismus übernehmen sollen: