Niklaus Meienberg

Reportagen 1+2


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er, würden mit dem untergehenden Spät(!)-Kapitalismus verschwinden (Moulier-Boutang), und damit seine unerträgliche Angst: «Ich habe so viele Depressionen erlebt seit dreissig Jahren, dass man mir gestatten wird, nicht davon zu sprechen. Wie soll man übrigens von dieser Angst reden, die wirklich unerträglich ist, an die Hölle grenzt und an die fürchterliche und unergründliche Leere?» (Althusser) Man möchte den «General der Philosophie» (Moulier-Boutang) postum umarmen und ihm zurufen: Hätten Sie das nicht früher schreiben können, Monsieur, und von ihrem Papst-Thron hinuntersteigen zu uns anderen, die sich ihrer Depressionen schämen? Hätte manchem (mancher) geholfen: zu wissen, dass die Halbgötter umnachtet sind und es ihnen sterbenselend ist.

      Später liess er sich in die chemische Zwangsjacke stecken (Neuroleptika), hat Schlafkuren ertragen (mit Penthothal-Spritzen), Lithium geschluckt, das Bogomolev-Serum eingespritzt bekommen, sich in Hochsicherheitstrakten einschliessen lassen (Klinik von Soisy), jede Art von Antidepressiva konsumiert: alles für die Katz.

      Seine Biographie ist die Geschichte der Psychiatrie der letzten fünfzig Jahre. Nur Deckelbäder hat er nicht abbekommen. Er war eine ambulante Apotheke und zeitweise so mit Medis vollgepumpt, dass er, wie Moulier-Boutang mir sagte, welcher ihn oft im depressiven Zustand gesehen hat (da konnte er jeweils nicht mehr reden und war völlig bewegungslos, vor-tot), nur noch einen Schluck Alkohol hätte nehmen müssen, und er wär' hinübergewesen.

      Seine Schüler haben kaum etwas von den Verzweiflungen des Meisters mitbekommen, wenn er wieder interniert wurde, liess die Direktion der «Ecole Normale Sup» (sogenannte «Grande Ecole», eigentlich höheres Lehrerseminar) verlauten, er sei in den Ferien. War er ja auch, gewissermassen. Er soll ein vorbildlicher Lehrer gewesen sein, habe zuhören können und hat den Schülern, welche die fürchterlich strenge, nur mit härtestem Büffeln zu bestehende «Agrégation» nicht bestanden (Michel Foucault, Jacques Derrida u.a.m), über ihre Depressionen hinweggeholfen und ihnen das Repetitionsjahr schmackhaft gemacht oder erträglich. Konnte sich selbst unter Depressionen etwas vorstellen …

      Ein Lichtpunkt: seine Geliebten. Man wird die schönste Prosa des Louis Althusser nie, oder erst in unabsehbarer Zeit, lesen können. Befindet sich nämlich in den siebenhundertfünfzig Briefen, die er an Claire Z. geschrieben hat; sie hat ihm fünfhundert zurückgeschrieben. Es war aber nicht nur eine Liebes-Brief-Beziehung, sondern eine ausgeflippte, echt erotische, zugleich spirituelle Leidenschaft (Moulier-Boutang hat die Briefe gesehen und bringt ein Zitat). Auch mit Franca X. war er glücklich.

      Die Ehe mit Hélène hingegen – da haben sich zwei Unglücksraben vereinigt. Hélène Ratman-Légotien kam aus einer verwüsteten Kindheit, wurde von ihrer Mutter verabscheut, hat ihrem krebskranken Vater, auf Anraten des Arztes, der das selbst nicht zu tun wagte, im Alter von 13 Jahren die tödliche Spritze verabreicht, ein Jahr später dann auch grad noch der Mutter. Verständlich, dass die Kommunistische Partei ihr ein Familienersatz wurde (wie für Althusser – beide waren in derselben Familie, als sie sich heirateten: Inzest?). Hélène wurde, aus nie genau geklärten Gründen, von der Partei, die ihr das Leben bedeutete, 1950 ausgeschlossen und Althusser von der Partei aufgefordert, sich von ihr zu trennen. Ein regelrechter Prozess à la Moskau war dem vorangegangen. Der kommunistische Dichter Paul Eluard («Sur mes cahiers d'écolier j'écris ton nom: Liberté»), der grosse Freiheitsspezialist, wird von Althusser um Hilfe gebeten, wendet sich indigniert ab. Althusser ist der Partei trotzdem treu geblieben. Die beiden leben dann, eine höllische Ehe, jahrzehntelang zusammen in der Amtswohnung der «Ecole Normale Sup» (ein Internat, in dem übrigens erst seit kurzem auch Frauen zugelassen sind). Hélène wird, ménage à trois, vom gleichen Psychiater wie Louis, René Diatkine, behandelt, der es auch sonst mit der Berufsethik nicht so genau nimmt, er lässt Louis auf sein Verlangen, nach einer Suiziddrohung, internieren, analysiert ihn face-à-face. Althusser soll allerdings kein einfacher Kunde gewesen sein, habe jeweils, schon nach den ersten Sitzungen, seine Analytiker zu analysieren begonnen und sie mit diabolischen Psychotricks zur Verzweiflung getrieben, so wie er auch den Leser manchmal fast zum Überschnappen bringt: Er hat in einem Buch (Bestseller) zwei Autobiographien veröffentlicht, eine kürzere, 1976 geschriebene («Les faits»), eher leichtfüssig bis zynisch, brillant und lustig; und eine längere, «L'avenir dure longtemps» (Zitat von de Gaulle), fünf Jahre nach dem Erdrosseln seiner Frau produziert; die erste verhält sich zur zweiten wie die Komödie zur Tragödie. In der ersten erzählt er u.a., skurril, aber komisch überzeugend, wie er ein atomares Unterseeboot gestohlen hat und von Papst Johannes XXIII. in die vatikanischen Gärten eingeladen worden ist und de Gaulle, der ihn um Feuer bat, auf dem Trottoir begegnet ist: alles Mumpitz, sagt Moulier-Boutang; aber damit wolle er vielleicht sagen, dass es sich bei seiner Autobiographie um Fiktion handle (obwohl sie andererseits von nachprüfbaren Daten strotzt).

      Moulier-Boutang seinerseits hat Althusser, in seiner minutiösen, spannend geschriebenen, an Richard Ellmanns oder Jean Lacou-tures Methode erinnernden Biographie, die auf Tausenden von unpublizierten schriftlichen und mündlichen Quellen fusst, erst bis zum Jahre 1956 behandelt (manchmal wie ein Psychiater: 505 Seiten). Man wartet gespannt auf den zweiten Band. Einen Abschnitt der französischen Geistes- und Politgeschichte muss man jetzt schon anders lesen.

      PS: Warum tötete Louis Althusser?

      Das Rätseln um den französischen Philosophen Louis Althusser geht weiter. Zwei Psychiater aus Bordeaux haben an einer medizinischen Fachtagung eine neue Hypothese vorgelegt, warum Althusser 1980 seine Frau Hélène erwürgt hat.

      Nicht aus Mitleid habe der berühmte Philosoph getötet, auch nicht getreu einem Selbstmord-Pakt zwischen Opfer und Täter, meinen Michel Bénézech und Patrick Lacoste, die beiden Psychiater: «Vielmehr weist alles darauf hin, dass es sich um ein Drama der Leidenschaft handelt, einen Konflikt von Liebe und Hass.»

      Die beiden auf Kriminalfälle spezialisierten Psychiater stützen sich, wie die Zeitung «Le Monde» berichtet, vor allem auf die letztes Jahr erschienenen autobiographischen Schriften von Althusser (TA vom 25. September). Der marxistische Philosoph habe enorme Angst gehabt, seine Frau verlasse ihn, wofür sich die Anzeichen in den letzten Wochen vor der Tat verstärkt hätten: «Wir haben es hier mit einem Typ von Beziehung zu tun, wie sie Mutter und Baby verbindet. Wenn eine solche Beziehung zu zerbrechen droht, besteht eine existentielle, vitale Gefahr und das Risiko, dass es zu einer mörderischen Tat kommt», glauben die Psychiater. Um der Trennungsangst zu entgehen, habe Althusser es vorgezogen, «das Objekt seiner Emotionen zu vernichten und so im Tod unbeschränkt zu besitzen».

      Althussers Tat hatte in der französischen Öffentlichkeit ungläubiges Entsetzen ausgelöst. Da der Philosoph für nicht zurechnungsfähig erklärt wurde, kam es zu keinem Prozess. Althusser wurde in einer Klinik interniert und später freigelassen. Er starb 1990.

      Althusser litt während Jahrzehnten an Depressionen und wurde immer wieder in Kliniken behandelt. Mit seiner Frau Hélène lebte er zurückgezogen in einer Dienstwohnung in der berühmten Pariser Ecole Normale Supérieure, an der der Philosoph unterrichtete. Althusser, dessen Bücher international Aufsehen erregten und viel diskutiert wurden, kannte Hélène seit 1946. Von der Ehehölle des Paars wussten selbst Freunde und Schüler nichts.

Forschen

      Quellen und wie man sie zum Sprudeln bringt*

      «Die Reformazzen memen immer, nur die schriftl. Überlieferung sei gültig. Ha!, sagten die Katholen, es gibt auch noch die mündliche. Das ist ein alter Religionskrieg. Und siehe da, deswegen ist die Tradition und ihre Schreibung, die Geschichts-Schreibung, bei K. Urner und G. Kreis und bei der NZZ so fad und so schal, so lau und so schmal, weil sie nicht schöpfet aus dem lebendigen Wasser der Mündlichkeit. Dich aber will ich ausspucken aus meinem Maul, sprach der herr god zebaoth, weil Du mir Langweile erregest unter der Zunge, unter meiner armen lingua, hinter dem Gaumensegel wird es mir so trocken hierzuland, heilantonner, und will Dich verpfeien bis Dir Dein Hendli verdorret, hui bis es tör ist. Und vom gregorianischen Koran verstehen sie auch nichts & haben ein ganz lüggenhaftes Weltgebewde! Gib mir die verlorne Zounge wieder pange lingua gloriosum corporis mysterium, und jetzt, Körperlichkeit in die Sprache sus tätschts.»

      Thomas von Aquin, 1983

      Es gibt * Eine Antwort auf Äusserungen von Professor Edgar Bonjour in den LNN vom